Im Dunkel der Schuld
gelauscht? Er konnte nichts verstanden haben. Sie hatte viel zu leise gesprochen. Warum verschwand er nicht endlich!
Sie stopfte das Handy in die Parkatasche, setzte sich eine schwarze Wollmütze auf und ging zurück in den Verkaufsraum. Flemming stand direkt neben dem Durchgang und betrachtete mit harmlosem Gesichtsausdruck eine Chagall-Lithografie.
»Würden Sie jetzt bitte �«
»Ja, ja. Ich darf also Dienstag vorbeikommen? Nur für einen ganz kurzen Blick? Georg hat mir so viel von den Bildern erzählt ⦠Bitte!«
Seine Augen bettelten, es war spät, und die einzige Möglichkeit, ihn loszuwerden, war wohl, zuzusagen.
»Also gut, in der Mittagspause um halb eins. Aber versprechen Sie sich nicht zu viel.«
Dann aktivierte sie die Alarmanlage, drängte ihren Besucher hinaus und schloss mit bebenden Händen zweimal ab. Als sie sich umdrehte, war Flemming verschwunden.
Schwarz lag der Friedhof vor ihr, ein leichter Wind säuselte in den Baumwipfeln, und als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die achteckige Kapelle mühelos ausmachen. Direkt oberhalb fand sie das offene Tor, das lautlos aufschwang. Irgendwo raschelte noch ein Vogel oder eine Katze im Gebüsch, ein Käuzchen klagte, ab und zu fuhr hinter der Mauer ein Auto vorbei. Ansonsten war es totenstill. Ebba bog an einem Grabmal mit halb verfallenen Säulen und einer steinernen Sitzbank ab, die in der Dunkelheit vage schimmerte, schritt an Denkmälern vorbei, die an ehemalige Hoteliers, Baudirektoren a. D., Offiziere a. D., Ãrzte a. D. erinnerten, bog in einen kleinen Seitenweg ab und blieb stehen, verwundert, wie hell es war, obwohl Wolken die Sterne und den Mond bedeckten.
»Jörg?«, raunte sie.
»Hier!« Ein hoher Grabstein verdeckte ihn, was sie ärgerte, denn von dort konnte er schwerlich alles im Auge behalten. Aber dann merkte sie, dass es ein guter Platz war. Er überblickte drei Wege, die zu der Grabstätte führten. Sie nahm ihm einen Klapphocker und eine Thermoskanne ab und suchte sich ihrerseits ein Versteck, von dem aus sie den Rest einsehen konnte. Dazu musste sie das Grab mit dem frischen Holzkreuz passieren. Sie war nicht abergläubisch, keineswegs. Trotzdem beschlich sie ein mulmiges Gefühl, als sie sich einbildete, im Halbdunkel die Namen ihrer Familienmitglieder auf der Pyramide ausmachen zu können. Wenn Rosies Name demnächst eingraviert war, war nur noch eine Zeile frei. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als in der Nähe wieder etwas raschelte. Sie würde sich verteidigen können, falls es nötig war, es war aber trotzdem gut zu wissen, dass Jörg in der Nähe war und Hilfe holen konnte. Noch war der mysteriöse Flaschenleger nicht da gewesen, es steckte nur ein kleiner Frühlingsstrauà in der Grabvase. Von wem der wohl kam? Buschert hatte ihr erklärt, dass er sich das Grab erst nächste Woche vornehmen würde; er sollte es mit pflegeleichten Bodendeckern bepflanzen.
Suchend sah sich Ebba um und fand schlieÃlich ein geeignetes Plätzchen unter einer hohen Tanne, die auch Schutz bot, falls es regnen würde.
Dann begann die Zeit zu tropfen, Sekunde für Sekunde.
Sie war es gewohnt, ihre Gedanken auszuschalten und einfach abzuwarten. So hatte sie es in der Truhe und später im Schrank lernen müssen. Nichts denken, aber trotzdem jedes Geräusch wahrnehmen, das war fast schon meditativ, ein vertrautes Gefühl. Wenn sich nur nicht ständig der Gedanke an Thomas Flemming in diese Seelenruhe drängen würde! Sie hatte vergessen, ihn zu fragen, wo im Ausland er gelebt hatte, sie hatte ihn noch nicht einmal gefragt, welchen Beruf er ausübte oder wo er wohnte. Dabei meinte er es bestimmt gut. Als er heute Abend so unpassend in die Galerie geplatzt war, hatte er sie, wenn sie ehrlich war, mit den verschiedenen Eintrittskarten positiv überrascht. Jörg würde nie auf solch verrückte Ideen kommen. Er tat alles, was sie von ihm verlangte, aber er dachte sich nie Ãberraschungen aus. Wahrscheinlich hatte sie ihm das gründlich ausgetrieben. Trotzdem: Das war nett von Flemming gewesen. Welchen Film er wohl ausgesucht hatte? Und was lief gerade im Theater? War es nicht »Der Besuch der alten Dame«? Irgendwie passte das Stück zum plötzlichen Auftauchen dieses Mannes. Warum hatte Georg nie von seinem Freund erzählt? Vielleicht war er gar nicht so übel,
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