Im Dunkel der Schuld
Heilpraktiker. Im Winter bin ich fertig.«
»Ihr Traumberuf?«
»Nicht ganz«, murmelte er und zerriss seine Papierserviette in kleine Fetzen. »Lassen wir das. Ist das Wetter nicht herrlich? Wie geschaffen für eine Spritztour im Cabriolet, oder? Fahren Sie gern Auto?«
»Ja. Aber eigentlich wollte ich mir immer schon eine Vespa zulegen.« Sie verstummte. Was war denn mit ihr los? Das hatte sie noch nie jemandem verraten, nicht einmal Jörg.
Der Fremde lächelte versonnen. »Kann ich mir gut vorstellen. Durch den Schwarzwald und dann in der Rheinebene herumgondeln â¦Â«
Das Essen kam, und Flemming lenkte das Thema wieder in Richtung Galerie und Kunstbetrieb. »Ende Mai kommt Neo Rauch ins Burda-Museum. Das würde ich mir gern ansehen, aber ich fürchte, ich begreife ihn nicht. Seine Werke sind so â¦Â«
»Monumental?«, half Ebba.
Er nickte.
»Damit tun sich viele schwer. Am besten, man betrachtet bei Neo Rauch nur das, was man sieht, ohne einen Abgrund oder eine Absicht hineinzuinterpretieren. Lassen Sie die Bilder auf sich wirken, und denken Sie daran, dass er aus der Leipziger Schule stammt. Die hatte schon immer ihren ganz speziellen Stil, zunächst aufgedrückt durchs DDR -Regime, dann weiterentwickelt und perfektioniert.«
»Waren Sie schon mal in Leipzig?«
»Schöne Stadt. Und die Kunstszene in der ehemaligen Spinnerei â¦Â«
»⦠würde ich mir zu gern einmal ansehen. Meinen Sie, man kann einfach hinfahren und in die Ateliers stolpern?«
»Ohne Terminabsprache wird das schwierig sein. Aber da könnte ich Ihnen helfen. Himmel, es ist schon nach zwei! Ich muss zurück.« Ebba sprang auf.
Flemming streckte ihr die Hand hin, die sie automatisch ergriff. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, als sie dabei in seine Augen sah. Sie verschwammen zu einem ultramarinblauen Meer.
Der Nachmittag verlief sehr ruhig, und zum ersten Mal langweilte sich Ebba. Die Menschen gingen achtlos an den Schaufenstern vorbei, das Telefon schwieg, es gab keine Korrespondenz zu erledigen, alles war geordnet. Sie klickte sich im Internet durch die Angebote einiger Kollegen, machte die Buchhaltung für den Monat, und dann war es trotzdem erst 16 Uhr. Noch drei Stunden.
Die Stahltüren schimmerten, und Ebba versuchte sich daran zu erinnern, welche Bilder Jörg damals fotografiert und zum Artikel gestellt hatte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, sie anlässlich der Eröffnung der Galerie überhaupt zu zeigen. Sie hatte nur einige ausgestellt, und drei waren am ersten Abend aus dem Stand verkauft worden. Hatte Flemming eines von diesen Gemälden im Sinn? Dann hatte sich die Sache sowieso erledigt.
Sie holte den Ordner mit den Presseberichten aus dem Schrank und suchte den Artikel heraus. Inzwischen wusste sie, dass Jörg den Umfang nur gegen groÃen Widerstand der Redaktion durchgesetzt hatte. Eine ganze Seite ohne Anzeige â das war für eine Galerieeröffnung mehr als ungewöhnlich. Er habe sich gleich beim ersten Termin in sie verliebt, hatte er ihr später gestanden, und die angeblich notwenigen Nachbesprechungen nur vorgeschoben, um sie wiederzusehen.
Wie dumm ihr Streit am Sonntag gewesen war! Andererseits war es wirklich unmöglich von ihm, in ihren Sachen zu wühlen. Hoffentlich hielt er jetzt sein Versprechen und lieà die Vergangenheit ruhen.
Viel würde er ohnehin nicht finden. Es hatte damals in der Zeitung kein Foto gegeben, nur den kurzen Polizeibericht mit Zeit, Ort und Hergang sowie die Nachricht, dass der Unfallverursacher noch an Ort und Stelle gestorben war und die beiden Verletzten aus dem entgegenkommenden Auto ins Krankenhaus gebracht worden waren. Später hatte die Versicherung ihrer Mutter geschrieben, dass sie sich um die Schadensabwicklung kümmern würde. Trotzdem war Ebba unwohl, wenn sie sich vorstellte, dass Jörg weiterbohren könnte. Natürlich würde er den wahren Grund für die Fahrt nicht herausfinden, aber allein die Tatsache, er könne sie noch einmal zu den Vorgängen jener Nacht befragen, jagte ihr Angst ein, und das Ungeheuer in ihr begann sich zu regen.
Um sich abzulenken, machte sie sich daran, den Boden der Galerie zu wischen, dann kochte sie sich einen Tee und stellte sich ans Fenster, um dem Treiben drauÃen zuzusehen. Warum ging die Zeit heute nur nicht herum? Das kannte sie gar nicht.
Vielleicht sollte sie einige Bilder
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