Im Dunkel der Schuld
sacht auf den Arm. »Ich habe mich mit dem Thema Depressionen und Freitod eingehend beschäftigt, Frau Seidel. Grübeln Sie nicht. Lassen Sie die Toten ruhen, und leben Sie. Versuchen Sie, optimistisch zu bleiben. Seien Sie achtsam. In manchen Familien liegt es in den Genen, für Depressionen anfällig zu sein.«
Er sah auf die Uhr und machte ein bedauerndes Gesicht. »Ich muss den Roller zurückbringen.«
Er erhob sich halb, doch Ebba hielt ihn zurück.
»Warum haben Sie sich mit dem Thema beschäftigt, Herr Flemming? Das gehört doch eher zur Arbeit von ausgebildeten Psychologen als in die Hände von Masseuren.«
Seine Augen wurden schmal. Trotzdem blieb er verbindlich. »Als Heilpraktiker will ich dem ganzen Menschen helfen. Nicht nur Symptome bekämpfen, sondern Leib und Seele heilen. Deshalb gehören auch psychologische Kenntnisse dazu. Sie interessieren mich, und ich lese und lerne viel darüber. Ich will alles richtig machen, verstehen Sie? In dieser Hinsicht bin ich ein wenig wie Georg, wenn auch nicht so fanatisch. Würden Sie, wenn ich das nächste Mal komme, mit mir zu seinem Grab gehen? Ich habe versucht, es zu finden, aber ich bin gescheitert.«
Ebbas Herzschlag setzte für einen Moment aus.
»Waren Sie auf dem Friedhof? Samstag vielleicht?« Im selben Augenblick merkte sie, wie dumm die Frage war. Wenn er nicht wusste, wo das Grab war, konnte er dort auch keine Flasche abgelegt haben.
»Gestern. Warum?«
»Tja dann ⦠Auf Wiedersehen. Ach, haben Sie eine Visitenkarte, damit ich Ihnen die Daten für die Ausstellungseröffnung mitteilen kann?«
Er machte keine Anstalten, seine Taschen abzusuchen, sondern schüttelte den Kopf.
»Ich melde mich bei Ihnen, Frau Seidel. Danke für den schönen Tag, auch wenn wir zum Schluss solch ein ernstes Thema hatten. Nächstes Mal gibt es hoffentlich mehr Kunst als Psychologie. Ich lass mir eine Ãberraschung für Sie einfallen. Jetzt muss ich los, sonst macht der Vespahändler zu. Das wäre schlecht, denn er hat meinen Autoschlüssel als Pfand.«
Ebba sah ihm verwirrt nach, wie er eilig die Biergartenterrasse überquerte und die Treppe hinunterhastete. Warum gab er ihr keine Telefonnummer und keine Adresse?
Unhöflich war das, ungehobelt und arrogant. Was war los mit ihm? Was wollte er von ihr? Das mit dem Bilderkauf hatte sich offenbar vorerst erledigt. Was also dann? Irgendwie kam es ihr im Nachhinein so vor, als habe er sie ganz geschickt ausgefragt. Aber warum? Und was genau hatte er erfahren wollen, was er nicht bereits wusste?
Das Thema lieà sie nicht mehr los.
Als sie zu Hause in der heiÃen Badewanne lag, ging sie das Gespräch mit ihm noch einmal in Ruhe durch. Er hatte also mit Georg vor dessen Tod telefoniert. Er wusste von der Phobie mit dem Lift, aber er war nicht besonders überrascht gewesen, als er hörte, wie Georg umgekommen war. Im Gegenteil, er hatte seltsam distanziert reagiert. So, als habe er es kommen sehen.
Das konnte eigentlich nur bedeuten, dass er über Georgs Verfolgungsfantasien Bescheid gewusst hatte. Vielleicht hatte er ihrem Bruder wieder einmal versprechen müssen, niemandem etwas davon zu sagen. Aber so lange nach dessen Tod galt dieses Versprechen doch nicht mehr! Ebba ärgerte sich, dass sie sich nicht genauer nach dem Inhalt des letzten Telefonats erkundigt hatte. Jetzt war es zu spät, jetzt musste sie bis Ende Mai auf die Auflösung warten.
Gereizt tauchte sie unter, kam jedoch sofort wieder hoch. Wer sagte denn, dass sie warten musste, bis er sich meldete?
Sie stieg aus der Wanne, wickelte sich ein Handtuch um den Körper und setzte sich an den Computer.
Es gab einige Thomas Flemmings im Internet, aber kein Profil passte zu ihm. Entweder das Foto stimmte nicht oder der Beruf, das Alter oder der Wohnort. Sie grenzte die Suche auf Hamburg ein, dann auf die dortigen Heilpraktikerschulen, doch von denen gab es etliche, und sie veröffentlichten die Namen ihrer Studenten natürlich nicht.
Also verlegte sie ihre Suche nach Karlsruhe. Kein Thomas, keine Firma, keine Kathrin Flemming. Ihr war ja nicht einmal bekannt, um welche Art Familienunternehmen es sich handelte, das seine Schwester weiterführte. Handwerk? Dienstleistung? Künstlerischer Bereich? Er hatte fast nichts über sich erzählt, sondern meistens sie zum Reden gebracht.
Was wusste sie überhaupt von ihm? Er war etwas älter
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