Im Dunkel der Schuld
»Lassen Sie mich in Ruhe!«
Der Mann setzte an und nahm einen Schluck. Einen kleinen. Winzigen. Einen, den ihm niemand anmerken würde. So klein, dass er eigentlich gar nicht zählte. Unbedeutend.
Buschert lieà sich auf dem wackligen Hocker nieder, auf dem er sich manchmal ausruhte.
Die Flasche stand zwischen ihnen beiden.
»Nehmen Sie die weg!« Seine Stimme klang genauso unsicher, wie er sich fühlte.
»Haben Sie ein Problem?«
Buschert sammelte sich, dann presste er die auswendig gelernten Worte hinaus. »Ich bin Alkoholiker.«
»Seit wann sind Sie trocken?«
»Seit fünfzehn Jahren.«
»Da macht doch ein Schluck nichts mehr aus. Sie sind längst drüber hinweg. Glauben Sie mir, ich kenne mich damit aus.«
»Wirklich?«
»Versuchen Sieâs.« Der Mann schob ihm die Flasche zu.
Da stand sie. Er brauchte bloà den Arm auszustrecken. Das Gewächshaus verschwamm vor seinen Augen, ein Rauschen setzte in seinem Kopf ein, alles drehte sich, er konnte nur noch diese Flasche fixieren.
»Verschwinden Sie«, stieà er hervor. »Ich will auch Ihre blöde Geschichte nicht hören.«
In Wahrheit wollte er etwas ganz anderes.
ZweiunddreiÃig
Dienstag, 29. März 2011
Noch eine halbe Stunde. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, Flemming nachzugeben! Wüsste sie seine Telefonnummer, hätte sie den Termin längst abgesagt. Sie wünschte sich Frau Hilpert herbei, doch die hatte die ganze Woche frei.
Vielleicht kam er nicht. Oder nicht pünktlich. Sie würde mit dem Glockenschlag um halb eins abschlieÃen. Kam er zu spät, hatte er Pech gehabt.
Nervös klimperte Ebba mit dem Schlüsselbund und nippte am Kaffee, der längst kalt und bitter geworden war. Sie hatte schlecht geschlafen, und daran war nur diese Verabredung schuld. Sie hatte im Traum wieder einmal im Nachthemd im Atelier gestanden und das Grundbild malen sollen, über das Bruno dann eine Schicht nach der anderen legen würde, ein Motiv grausiger als das andere. Erst das letzte Bild würde die Schrecken verbergen, auch wenn die Motive immer düster blieben. Moore, kahle Wälder, Ãberschwemmungen, Dürren sollten sie darstellen, hatte er ihr erklärt, und sie waren viel zu abstrakt, um ihr Geheimnis oder ihre Bedeutung einem unbefangenen Betrachter zu offenbaren.
Sie stand mit nackten FüÃen auf den Fliesen und wusste nicht mehr weiter. Vielleicht hatte er das Grundmotiv gemalt, denn es war schrecklich. Sie konnte nicht genau erkennen, was es darstellen sollte, aber es flöÃte ihr Angst ein. Sie war nicht in der Lage, sich zu rühren, obwohl eine Stimme drängte, sie solle endlich in den Schrank klettern, sonst würde sie noch gefunden werden. Sie suchte den Schrank, aber sie fand ihn nicht. Sie fand überhaupt kein Versteck, aber sie hörte »es« näher kommen. Gleich würde es sie erreicht haben, und dann würde sie sterben â¦
Mehrmals war sie in der Nacht aufgeschreckt, froh, dass es nur ein Traum gewesen war, und gleichzeitig entnervt, weil die Nacht einfach kein Ende nehmen wollte, sondern beim nächsten Einschlafen nur wieder eine neue Verfolgungsszene oder die Suche nach einem Versteck wartete. Sie warf sich in ihrem Bett hin und her.
Seit Jahren hatte sie keine solche Nacht mehr erlebt. Daran war vor allem wohl dieser schreckliche Augenblick gestern Abend schuld, in dem sie die Nerven verloren hatte. Sie war gerade in die Wohnung gekommen. Das Nachtlicht hatte wie üblich gebrannt, sie hatte die Deckenlampen eingeschaltet und war in den Badbereich gegangen, als mit einem Mal alles dunkel wurde. Augenblicklich hatte eine grauenhafte Angst sie überschwemmt, am liebsten hätte sie geschrien, aber es hätte sie ja niemand gehört. Sie hatte wie eine Irre die anderen Lichtschalter betätigt, aber alles war dunkel geblieben.
Währenddessen bildete sie sich ein, vor der Wohnungstür leises Schlurfen zu hören, und dieses kaum wahrnehmbare Geräusch war das Schlimmste gewesen. Niemand hatte etwas im obersten Stockwerk zu suchen. Erfüllt von Angst war sie zu Boden gegangen, war in Richtung Bett gerobbt, wo ihre Tasche mit dem Handy lag. Siedend heià war ihr durch den Kopf geschossen: Jetzt bist du an der Reihe. Alle anderen sind tot, jetzt kommst du dran. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, als könnte sie damit unsichtbar werden. Sie hatte sich Schritte
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