Im Dunkel der Schuld
herbeigeschafft worden war. Aber heute wurde der Besuch nachgeholt: ein Abend mit dem Künstler, hautnah. Der Ansturm würde groà sein.
Ebba freute sich darauf, nicht nur wegen des Kunstgenusses. Bestimmt würde sie ein paar Kollegen treffen, auch wenn Michael Maurer verhindert war. Jörg weilte in den Niederlanden und schoss Milieuaufnahmen zum grassierenden Fremdenhass, der demnächst als Spitzenthema mehrere Seiten im Stern bekommen würde. Sie würde also allein zum Begegnungsabend gehen, und im Grunde war ihr das wesentlich lieber, als sich irgendwelche Kommentare von Begleitern anhören zu müssen, selbst wenn diese fachkundig waren. Sie wollte die Bilder noch einmal und vielleicht, wenn sie Glück hatte, dank der Erklärungen des Künstlers mit anderen Augen begutachten und sich dabei nicht stören lassen.
AnschlieÃend bei einem Glas Wein Eindrücke austauschen â das war in Ordnung, ansonsten ging sie lieber ohne Begleitung durch Ausstellungen und Museen. Manchmal wünschte sie sich, einmal eine Nacht ganz allein in einem Museum eingeschlossen zu werden und unendlich viel Zeit für bestimmte Werke zu haben, ohne dass sich jemand flüsternd oder schlurfend ins Blickfeld schob. Im Museum of Modern Art in New York zum Beispiel, oder im Van-Gogh-Museum in Amsterdam.
Sie sehnte sich nach frischen Eindrücken. Auch die Exponate in ihrer Galerie hingen schon viel zu lange an den Wänden. Zum Wochenende würde sie sie austauschen. Vor allem das Bild mit der schaukelnden Frau musste endlich aussortiert werden. Viele waren fasziniert davon, aber dann schreckten sie doch vor einem Kauf zurück. Es war der Preis, ganz bestimmt. Irgendwann würde auch Corinna das einsehen.
Sie würde also die Stahltüren öffnen müssen, hinter denen sie nicht nur die verhassten Werke ihres Vaters verstaut hatte, sondern auch die neueren ihrer sogenannten »Wechselbilder«, für die der andere Schrank vor Kurzem leider zu klein geworden war. Fürs Weihnachtgeschäft musste frische Ware an die Wände.
Innerlich schüttelte sie über sich den Kopf, weil sie es immer noch nicht geschafft hatte, Kollegen die Sammlung Seidel anzubieten. Noch vor Kurzem war sie wild dazu entschlossen gewesen, vor allem, als Jörg plötzlich die alten, verstörenden Geschichten über ihren Vater ausgegraben hatte.
Zuerst hatte sie sich davon abgestoÃen gefühlt, aber dann hatte sie sich gesagt, dass endlich etwas geschehen musste. Sie konnte nicht jedes Mal in Deckung gehen oder Zustände bekommen, wenn der Name ihres Vaters fiel. Wo aber sollte sie selbst mit ihren Nachforschungen beginnen?
Es gab keinen Ansatz, aufgrund dessen man vom unglückseligen Lebenslauf Bruno Seidels auf die alljährliche Schnapsflasche auf seinem Grab hätte schlieÃen können. Ganz zu schweigen davon, einen Zusammenhang mit den Todesfällen der letzten Jahre zu konstruieren, sosehr sie sich auch wünschte, dass ihr Verdacht endlich bestätigt werden würde. Es gab nach so langer Zeit keine Namen mehr von Mitschülern aus der Paderborner Flakhelferzeit. Irgendwie rissen alle Spuren mit dem Umzug Bruno Seidels nach Baden-Baden ab.
Jörg hatte trotzdem die Daten ehemaliger Offiziere und anderer Angehöriger des Luftwaffenstützpunkts ausgegraben. Doch sie tauchten weder im Einwohnermeldeamt von Baden-Baden noch in den Unterlagen der Friedhofsverwaltung auf, und sie sagten auch ihr persönlich nichts. Kein Name verband sich mit einem Gesicht von früher. Wahrscheinlich waren alle längst tot.
Ebba hatte sogar noch einmal die Kripobeamtin in Freiburg angerufen, um herauszufinden, ob es, wenn man in allen drei Todesfällen einen Zusammenhang unterstellte, eine Wiederaufnahme der polizeilichen Ermittlungen geben könnte. Patricia Wieland konnte sich sehr gut an den Fall ihrer Mutter erinnern und hatte die alte Akte noch einmal hervorgekramt, nachdem Ebba ihr von ihren Ãberlegungen berichtet hatte. Aber es blieb dabei: Im Fall Frieda Seidel war kein Fremdverschulden nachzuweisen gewesen.
»Wenn ich nur den Hauch eines Verdachts hätte, würde ich die Ermittlungen sofort wiederaufnehmen«, versuchte Patricia Wieland sie zu beruhigen. »Grübeln Sie nicht so viel, Frau Seidel. Es gibt keine Zweifel am natürlichen Tod Ihrer Mutter. SchlieÃen Sie ab. Ich werde das auch tun, denn ich werde zum neuen Jahr nach Rastatt/Baden-Baden
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