Im Dunkel der Schuld
»Wie ging es weiter?«
»Bei mir? Ich habe das Studium an den Nagel gehängt und den Betrieb so lange weitergeführt, bis Kathrin übernehmen konnte.«
»Warum habt ihr nicht zugemacht?«
»Wie hätte ich denn meine Schwestern durchbringen sollen? Sie waren fünfzehn und sechzehn. Ich war zum Glück schon volljährig, und man hat mir die Vormundschaft übertragen, aber nur, wenn ich sie auch ernähren konnte. Ich hatte keine Wahl.«
Ebba berührte seinen Arm. »Du bist ein guter Mensch«, sagte sie leise. »Deine Schwestern können sehr stolz auf dich sein. SchlieÃlich hast du deinen Traum dann aber doch noch erfüllt, nicht wahr? Wenigstens halb.«
Er schnaubte. »Heilpraktiker! Das ist etwas anderes als Chirurg.« Er kickte einen frei liegenden Stein fort. In ihm schien eine ähnliche Wut zu stecken wie in ihr. Allerdings war ihrer beider Leben nach dem jeweiligen Tod des Vaters sehr unterschiedlich verlaufen: Er hatte in den Schreckensberuf zurückkehren müssen, sie hingegen hatte sich alle Träume erfüllen können.
»Das Leben ist nicht immer gerecht«, stellte sie fest, und Thomas lachte trocken.
»Wie recht du hast. Und jetzt lass uns von etwas Erfreulicherem reden. Sieh mal, da vorn ist der Scherrhof. Da gibt es hausgemachte Maultaschen und das beste Wildschweinragout weit und breit. Ich hoffe es wenigstens. Eigentlich wollten sie zum neuen Jahr schlieÃen. Vielleicht haben wir Glück.«
Ebba sah ihn prüfend an. Spielte er den Stimmungswechsel nur? Oder konnte er seine Gefühle ähnlich gut beherrschen wie sie? Hatte auch er derart tiefe Verletzungen erlitten, dass alles über die Kindheit und Jugend wie zugeschüttet war?
Das fragte sie sich immer noch, als sie nun in ihrer Galerie stand. Es hatte in den letzten Tagen immer wieder kleine Szenen gegeben, die nicht recht ins Gesamtbild passten. Aber bestand sie selbst nicht ebenfalls aus lauter Widersprüchen?
Auf dem Anrufbeantworter waren einige Nachrichten, obwohl inzwischen die meisten Kontakte über E-Mails und Handy liefen. Corinna wollte am Nachmittag vorbeikommen, eine liebe Kollegin aus Mainz war letzte Woche in der Stadt gewesen und hatte sie auf einen Kaffee treffen wollen. Dann war Jörgs Stimme zu hören; die Nachricht stammte vom zweiten Januar.
»Ich bin mir nicht sicher, ob dein Freund deine Telefonate abhört oder löscht, deshalb rufe ich hier an. Ebba, nimm dich in Acht vor ihm. Er gefällt mir nicht. Ich finde keinen Heilpraktiker Thomas Flemming, weder in Karlsruhe noch in Baden-Baden, und auch die Institute in Hamburg haben in letzter Zeit niemanden mit diesem Namen ausgebildet. Das weià ich aus sicherer Quelle. Hast du irgendeinen Beweis, dass er wirklich mit Georg in die Schule ging? In Baden-Baden war er jedenfalls nicht registriert. Da stimmt etwas nicht. Ruf mich an. Ich flehe dich an.«
Am siebten Januar hatte er noch einmal aufs Band gesprochen. »Ich will dir nur sagen, dass ich jetzt in alle Richtungen recherchiere, auch wenn es dir nicht gefallen sollte. Mail mir ein Foto von ihm, bitte! Ich suche nach Querverbindungen zur Vergangenheit. Tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe keine andere Wahl.«
Ebba runzelte die Stirn. Was fiel ihm ein? Das war doch nur ein Ablenkungsmanöver. Warum hatte er sie nicht auf dem Handy angerufen? Und warum wollte er ein Foto von Thomas? Es gab keines. Ebenso wenig wie eine Adresse oder Handynummer, immer noch nicht, das fiel ihr erst jetzt auf. Bislang hatte sie nichts dergleichen wirklich vermisst.
Sie betrachtete ihr Handy, auf dem sie immer noch Fotos von Jörg gespeichert hatte. Es gab eines, das sie einmal an der zugefrorenen Schwarzenbachtalsperre aufgenommen hatte, ein Winterbild, entstanden im Januar 2007. Zwei Monate später war Georg gestorben. Ein halbes Jahr waren sie damals zusammen gewesen, und sie hatte ihm im Nachklang des alljährlichen Weihnachtsfestes in Freiburg kleine Anekdoten über die Marotten ihrer Angehörigen erzählt. Sie war glücklich gewesen, und er hatte sich interessiert gezeigt. Ãber Georgs Kontrollwahn hatte sie sogar Witze gemacht, fiel ihr ein. Sie versuchte sich genau zu erinnern. Hatte sie von sich aus mit den Geschichten angefangen, oder hatte Jörg einfach nicht lockergelassen? Er hatte vieles genau wissen wollen. Zu genau?
Und warum hatte er immer wieder ein so starkes Interesse am Tod ihres Vaters
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