Im Dunkel der Schuld
sie auf die Stirn, während er weiterhin auf die Fenster starrte und dem eisigen Schrecken nachspürte, der in ihm hochkroch.
»Vielleicht hat Mama recht«, flüsterte er langsam. »Vielleicht ist es Zeit zu büÃen.«
Fünf
Donnerstag, 22. März 2007
»Ich habe sie, Frau Hilpert! Gleich zwei Exponate von Sibylle Wagner! Sehen Sie: rotlichtschatten und rothorizont.«
Immer noch begeistert, beugte sich Ebba über ihren Laptop und stellte ihn für ihre Assistentin etwas quer zum Licht.
»Plexiglas vor Acryl auf Hartfaser. Dieses Rot ist einzigartig, betörend und so kraftvoll, dass es mich gestern wie ein Magnet durch die ganze Ausstellungshalle angezogen hat. Dabei hatte ich erst keine Lust, auf die art KARLSRUHE zu gehen. Und dann das. Das ist genau, was Monsieur Leblanc in StraÃburg sucht. Es hat mich wie ein Blitz getroffen.«
Frau Hilpert zog die Augenbraue hoch â ein Zeichen höchster Anerkennung. »Gratulation. Selbst auf dem Schirm beeindruckend. Wann kommen sie? Soll ich sie in Empfang nehmen?«
»Ich bin spätestens Ende nächster Woche zurück. Die Treffen vor der Art Paris sind viel interessanter als die überlaufene Messe selbst. Ãbernächste Woche, Dienstag oder Mittwoch, sollen die Bilder geliefert werden, und am Freitag oder Samstag bringe ich sie nach StraÃburg. Ich bin mir sicher, dass Leblanc sie kaufen wird.«
»Tut es Ihnen nie leid, Bilder, die Ihnen etwas bedeuten, wieder abgeben zu müssen?«
»Aber nein. Das Finden, dieser Blitz und natürlich dieses kurzfristige Gefühl des Besitzens â das ist es, was mir den Kick gibt. Danach kann ich loslassen â zumal in diesem Fall. Wäre Monsieur Leblanc nicht gerade auf der Tagung in New York, wäre er wahrscheinlich direkt nach Karlsruhe gefahren, um die Originale zu begutachten.«
»Und hätte Sie um die Provision gebracht.«
Frau Hilpert blies eine Strähne aus der Stirn, die sich aus der strengen kastanienbraunen Hochfrisur gelöst hatte, und zupfte ein unsichtbares Fädchen von ihrem schlichten, schwarzen Hosenanzug. Nichts vermochte sie aus der Ruhe zu bringen, und dafür schätzte Ebba sie. Sie konnte sich den Galeriebetrieb ohne ihre Assistentin nicht vorstellen. Frau Hilpert war Mitte fünfzig, eine Wiedereinsteigerin mit solider kunsthistorischer Ausbildung, und mit ihrer kühlen Eleganz der ruhende Pol im groÃen Frühjahrschaos. Ohne Klage hatte sie seit vier Wochen durchgearbeitet, obwohl sie lediglich einen Halbtagsvertrag besaÃ.
»Nur noch Paris, dann können Sie Ihre Ãberstunden abfeiern, das verspreche ich. Aber Paris â das wollte ich mir nicht entgehen lassen.«
Frau Hilpert kniff ein Auge zu und zeigte einen Anflug von einem Lächeln. »Und das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Dazu ist die Stadt ja wie geschaffen.«
Ebba vertiefte sich in den Computerbildschirm, um zu verbergen, wie sie sich auf den Ausflug freute. Es würde der erste gemeinsame Urlaub mit Jörg werden, morgen Früh sollte es losgehen. Sie hatte ein Hotel in der Nähe der Oper gebucht, und das Wochenende würde nur ihnen beiden gehören, keine Treffen, Geschäftsessen oder Reportagetermine. Einerseits freute sie sich auf die Tage mit Jörg und natürlich auf Paris im Frühling, andererseits war es ein Experiment. Sie trafen sich zwar jedes zweite Wochenende, aber so ganz hatte sich keiner von ihnen bislang dem anderen gegenüber geöffnet. Ebba gab sich die Schuld daran. Je mehr jemand von ihr wusste, umso schutzloser fühlte sie sich. Wahrscheinlich hatte sich das auch auf Jörg übertragen, denn auch er sprach lieber über allgemeine Themen als über sich und seine Gefühle. Nur wenn die Rede auf seinen GroÃvater Anton kam, bei dem er aufgewachsen war, taute er auf und erzählte mit leuchtenden Augen über rührende Kindheitserlebnisse, um die Ebba ihn glühend beneidete.
Wie fremd sie sich im Grunde immer noch waren, hatte sich vor einigen Wochen gezeigt, als sie gemeinsam in die Nähe von Besançon gefahren waren, wo Ebba den bekannten Bildhauer Jörg Schad in dessen Atelier hatte treffen wollen.
Sie hatten die Nacht in einem kleinen Gasthof verbringen wollen, den Jörg ausgesucht hatte, und sie hatte Zustände bekommen, weil sie schier erstickt wäre an der Enge, der Düsternis, der erdrückenden dunklen Holzbalkendecke, dem dicken
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