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Im Dunkel der Schuld

Im Dunkel der Schuld

Titel: Im Dunkel der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Hampp
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Alle tot. Und sie würde nun die Nächste, die Letzte aus der Familie sein.
    Sie konnte sich vorstellen, dass draußen alles genauso arrangiert war wie bei den Trauerfeiern in ihrer Familie: Iris und Narzissen in Thujengestecken auf dem Sargdeckel, vielleicht ein paar rote Rosentupfer in den Kränzen, sogar die Abfolge der Lieder und Gebete war gleich.
    Ebba nahm die letzten Kräfte zusammen und versuchte zu stöhnen. Vielleicht hörte sie jemand. Es waren doch Menschen da draußen!
    Es kam jedoch nur ein kraftloser Ton heraus, zu leise, viel zu leise.
    Konnte es noch schlimmer kommen?
    Helligkeit. Es roch nach Pizza, Zitrone und Pfefferminze. Ebba nahm sich zusammen. Hundertmal hatte sie sich diese Szene vorgestellt. Sie würde nicht reagieren. Sie würde sich totstellen. Das würde seinen Plan durcheinanderbringen. Vielleicht band er sie los, wenn sie nur überzeugend genug war.
    Mit übermenschlicher Anstrengung versuchte sie, möglichst keinen Muskel zu bewegen, weder ihren Augapfel noch ihre trockene Kehle noch den Brustkorb.
    Â»Ebba?« Seine Finger legten sich um ihr Handgelenk.
    Ich bin ganz ruhig, sagte sie sich und hoffte, ihr Puls würde sie nicht verraten.
    Seine Finger lösten sich, tasteten zu ihrer Halsschlagader. »Verdammt, Ebba!«
    Dann war der Druck fort, und er begann zu lachen. »Komm schon. Hör auf mit dem Theater.«
    Tot. Tu so, als ob. Beherrsch dich, redete sie sich ein, aber sein Lachen verstärkte sich.
    Â»Deine Haare verraten dich, du dummes Stück. Komm schon, mach die Augen auf.«
    Ebba rührte sich nicht.
    Â»Möchtest du etwas trinken? Ich habe dir auch etwas Pizza aufgehoben – wie wär’s?«
    Essen. Trinken. Die Gier war zu groß. Sie schaltete ihren Verstand aus, verwarf ihren Plan.
    Grell fuhr ihr das Deckenlicht in die Augen. Sie konnte nicht zwinkern, denn sie wollte auf keinen Fall ihren Blick abwenden: Thomas hielt die Schnabeltasse in der Hand, nur wenige Zentimeter entfernt.
    Sie wollte alles tun, damit er ihr den Knebel abnahm, die Tasse an ihre Lippen führte und sie dann in das duftende Teigstück beißen ließ, das er in der anderen Hand hielt. Aber mehr als stumm zu flehen blieb ihr nicht übrig, und das verstand er falsch.
    Â»Dann eben nicht«, sagte er seufzend. »Würdest du wenigstens mit mir reden? Oder bist du dir dazu auch zu fein?«
    Augen auf, Augen zu. Hoffentlich verstand er das. Hoffentlich interpretierte er aus lauter Boshaftigkeit nicht auch diese kleine Geste falsch.
    Mit einem Ruck riss er ihr das Klebeband vom Mund. Es brannte, als habe er ihr die Haut abgezogen. Dann war sie auch den trockenen Klumpen los. Erleichtert bewegte sie ihre Lippen, die Zunge. Sie spürte nichts, alles war trocken, taub und rissig, aber es war nicht ganz so schlimm wie beim Mal zuvor.
    Er führte die Tasse an ihren Mund, doch mehr als die Lippen benetzte er nicht, schon zog er die köstliche Flüssigkeit wieder fort.
    Noch einmal bewegte sie Lippen und Zunge. Es ging besser. »Da-anke«, sagte sie. Es klang rau, aber verständlich.
    Â»Me-ehr«, fügte sie sofort hinzu.
    Â»Aber, aber! Du wirst es dir verdienen müssen.« Er drehte die Tasse um und ließ den Inhalt über ihre Haare tropfen. Viel war es nicht, aber alles in ihr gierte nach jedem verschwendeten Tropfen. Hätte sie nur die Hände frei, würde sie ihn packen und ihm den Hals umdrehen, nur um den letzten Rest aus der Tasse lecken zu können.
    Sie war nahe dran, vor Erschöpfung und Verzweiflung zu weinen. Aber den Gefallen wollte sie ihm nicht tun.
    Â»Wir waren in unserem Gespräch bei der Nacht, in der dein Vater aus dem Haus getrieben wurde. Wie habt ihr das angestellt? Wer war die treibende Kraft? Du, oder? Die anderen haben dich gedeckt, aber du warst es. Stimmt das? Ich will es wissen. Rede!«
    Â»Nichts gemacht.«
    Â»Verdammte Lügnerin. Deine Mutter hat es selbst gesagt.«
    Â»Mama? Dir?«
    Â»Nein, meinem Kollegen in Baden-Baden. Beim Trauergespräch, an dem ihr Kinder ja nicht teilgenommen habt, weil euch die ganze Sache nicht wichtig genug war.«
    Â»Kollege?«
    Â»Ein Kollege meines Vater. Er hat es mir erzählt, als er erfuhr, dass mein Vater und meine Schwester die Unfallopfer gewesen waren.«
    Â»D-durcheinander. N-nichts gesch-schehen«, brachte Ebba heraus. Ganze Sätze gingen ihr nicht über die eingetrockneten Lippen. Ihre Zunge

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