Im Dunkel der Schuld
einen Milchkaffee geschlürft, in der Brasserie Flo deftig gespeist und waren zum Abend hin über die frühlingshaften Boulevards gebummelt.
Trotzdem wollte sich keine unbeschwerte Stimmung einstellen. Ebba konnte immer noch nicht glauben, was Maria über die merkwürdigen Einbildungen ihres Bruders berichtet hatte. Maria sollte ihren eigenen Ehemann in den Wahnsinn treiben wollen, indem sie Wasserhähne aufdrehte und den Fernseher laufen lieÃ? Das war ebenso lächerlich wie die Vorstellung, ein Einbrecher könne regelmäÃig sein Unwesen im Haus treiben, wenn sie nicht daheim waren. Lag es an Georg, dem vielleicht allmählich die Kontrolle entglitt, ohne dass er es merkte?
Das bereitete Ebba erhebliches Kopfzerbrechen. Hinzu kam, dass er sich nicht meldete. Sie hatte pünktlich angerufen, aber er hatte nicht abgenommen. Sie hatte es zehn Minuten später versucht, und wieder und wieder, sowohl zu Hause als auch im Büro, dessen Nummer Maria ihr in Panik diktiert hatte â kein Lebenszeichen, weder am Freitag noch am Samstag.
Maria hatte beide Nächte kaum geschlafen, und auch Ebba war jedes Mal wach geworden, wenn sich ihre Schwägerin auf der durchgelegenen Matratze herumwälzte. So viel zur Bequemlichkeit französischer Betten.
Natürlich hatte sie es heute ab sieben Uhr stündlich bei Georg probiert â vergebens. Freunde, die nach dem Rechten sehen konnten, hatten sie nicht, wie Maria mit zitterndem Kinn gestand. Was war das für ein einsames Leben, nur die beiden, putzend, wischend, Listen abstreichend! Ebba unterdrückte erst leichte Ungeduld, dann leise Verärgerung.
Warum nahm ihr Bruder nicht ab, verdammt noch mal? Ging ihre Uhr nicht genau? Wollte er ihr beibringen, nicht um eine Minute vor oder zwei Minuten nach, sondern exakt mit dem Glockenschlag anzurufen? Mit welchem? Dem ersten oder dem letzten? Sie wollte sich den Parisaufenthalt nicht von irgendwelchen Ordnungsspielchen verderben lassen.
»Mona Lisa im überfüllten Louvre oder ein träumerischer Halt im Garten von Auguste Rodin? Wonach steht dir der Sinn?«, fragte sie gegen Mittag betont munter, aber es half nichts.
Gleich würde Maria mit ihren Tränen den Kaffee versalzen.
Seufzend schlug Ebba ihren Terminkalender auf und ging die Verabredungen der nächsten Tage durch. Eigentlich war es mehr Kontaktpflege, nur bei ein oder zwei Treffen konnte am Ende ein Kauf herausspringen. Nichts, was sich nicht verschieben oder via Telefon und Internet erledigen lieÃe.
»Montmartre können wir uns sparen, alles voller Touristen«, murmelte sie vor sich hin. »Notre Dame muss sie gesehen haben, und den Eiffelturm eigentlich auch.«
Wenigstens den Rest des Sonntags sollten sie noch halbwegs sinnvoll verbringen. Und wenn Georg heute Abend immer noch nicht â¦
Maria schnüffelte in ihr Taschentuch. »K-kannst duâs bitte noch einmal versuchen? Vielleicht etwas ist passiert. Sein Herz, du weiÃt doch â¦Â«
Und ob Ebba das wusste. Hundert Szenen wirbelten ihr wie auf Kommando durch den Kopf.
Georgs Schwimmversuche, die mit blauen Lippen und ebenso blauen Fingerkuppen endeten, seine Schnappatmung, wenn Papa ihn zwang, mit dem Fahrrad in Rekordzeit Einkäufe in der Stadt zu erledigen und wieder die Anhöhe zu ihnen hinaufzuradeln. Seine ständige Müdigkeit, die Papa ihm als Schwäche auslegte und austreiben wollte. Die Ader an seiner Schläfe, die zu zerspringen drohte, wenn er sich anstrengte.
Schon früh hatte sie gelernt, dass sie von ihrem groÃen Bruder keine Hilfe erwarten durfte, sondern ihn im Gegenteil beschützen musste.
So war es bis heute.
Ebba sah auf die Armbanduhr und kramte ein paar Euro aus der Tasche.
»Also gut«, sagte sie. »Wir essen noch eine Kleinigkeit, dann gehen wir zum Hotel, checken aus und fahren zurück. Wenn wir gut aus Paris rauskommen, brauchen wir für die Strecke fünf Stunden. Du wärst also gegen neunzehn Uhr in Heidelberg, okay?«
Marias Strahlen entschädigte sie für vieles. AuÃerdem â niemand hinderte sie daran, morgen zurückzukommen. Vielleicht sogar mit Jörg. Es war ja wirklich keine Weltreise.
Sie schafften es bis kurz vor der Tagesschau, und als Ebba vor dem Haus parkte und die dunklen Fenster sah, sprang Marias Angst, die sie während der Fahrt mit Musik und Anekdoten aus dem Kunstbetrieb hatte besänftigen wollen, mit voller Wucht auf sie
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