Im Dunkel der Schuld
Ebba weiterredete: »Es wäre wirklich an der Zeit, dass du mal tust, was du willst, und nicht das, was anderen am wenigsten missfallen könnte.«
Rosie schluckte. Manchmal war Ebba unerträglich direkt. Aber sie meinte es nur gut mit ihr. Es belastete sie selbst, ständig Kompromisse einzugehen, um es allen recht zu machen. Das war auch ein Grund, warum sie eigentlich froh war, allein zu leben. Wäre sie mit einem Mann zusammen, würde sie nur sein Leben leben, nur das denken, was er dachte, ständig überlegen, was er lieber täte. Das ging ihr ja in Ansätzen schon mit Wilma so.
»Also?«, unterbrach Ebba ihre Gedanken, und stellte zwei Kaffee- und zwei Teetassen auf den Tresen.
Plötzlich wurde Rosie klar, dass Ebba es ehrlich meinte. Es war ihr wirklich gleichgültig, wie sie sich entschied. Sie brauchte sich nicht um die Befindlichkeiten ihrer Schwester Gedanken zu machen; die konnte sie nicht verletzen. Es machte Ebba nichts aus, ob sie, Rosie, Tee oder Kaffee trank, ob sie heute oder morgen fuhr, ob sie im Sommer oder an Weihnachten nach Baden-Baden kam oder ob sie sich gar nicht trafen. Es war plötzlich, als sei sie von einer Last befreit. Zumindest bei Ebba brauchte sie ihre Antennen nach möglichen geheimen Wünschen nicht auszufahren. Am liebsten hätte sie ihre Schwester vor Dankbarkeit auf die Wange geküsst, wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie das nicht leiden konnte.
»Dann würde ich gern Kaffee trinken und wie geplant erst morgen fahren«, sagte Rosie mit fester Stimme und verkniff sich jedes weitere Wort.
Am nächsten Vormittag bereute sie ihren Entschluss, denn natürlich bedeutete er, dass Ebba wegen ihr nicht in die Galerie ging, sondern sie noch einmal zum Friedhof begleitete, sie zum Grab führte, obwohl es ihr wahrscheinlich vollkommen egal war, wie die Stätte nun mit dem über Nacht erfrorenen Blumenschmuck aussah. Rosie hatte frische Rosen gekauft, aber als sie an dem Familiengrab mit den zwei eingemeiÃelten Namen stand, zu denen erst später Friedas Name kommen würde, fiel ihr ein, dass es komisch aussehen würde, wenn sie die Blumen nur vor das frische Holzkreuz legte. Sie traute sich nicht, Ebba etwas von ihrem Konflikt mitzuteilen, und so stand sie unschlüssig da und kämpfte stumm mit den Tränen.
Ebba blickte sie von der Seite an.
»Kann ich dir helfen?« Dann sah sie auf den StrauÃ, zur Pyramide und zu Friedas Kreuz, das etwas entfernt schief in der aufgeworfenen Erde steckte. »Oh«, sagte sie leise, nahm Rosie sorgsam die Blumen ab und kletterte auf die Umrandung, etwas, das Rosie niemals geschafft hätte. Sie deponierte den Strauà in der Mitte.
»Gut so?« Dann drückte sie Rosies Arm und gab das Zeichen zum Aufbruch.
Am Bahnsteig wuchtete Ebba das Gepäck in den Waggon und wartete, bis Rosie die Tür zum Abteil aufgeschoben hatte, dann drehte sie sich um und ging gruÃlos und ohne zu winken fort. Rosie lehnte die Stirn ans Fenster und sah ihr nach, bis die Treppen zur Gleisunterführung sie verschluckt hatten. Dann mühte sie sich, blind vor Tränen, ihren schweren Rucksack in die Gepäckablage zu hieven. Es gelang ihr nicht, und sie musste ihn kurz auf den Sitz zurückstellen und warten, bis die Schmerzen im Bein nachlieÃen.
Hinter ihr wurde die Tür aufgeschoben, dann hörte sie eine sehr angenehme dunkle Stimme sagen: »Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Zwei kräftige Hände packten ihren Rucksack, und schon war das Problem gelöst. Erleichtert lieà sich Rosie auf ihren reservierten Platz am Gang, möglichst weit entfernt vom Fenster, fallen. Der Mitreisende verstaute sein Gepäck ebenfalls, zog seinen Mantel aus und setzte sich ihr gegenüber. Sie hatte ihn auf dem Bahnsteig gar nicht bemerkt.
Sein freundliches Lächeln lieà seine dunkelblauen Augen aufblitzen wie ein Stück Ostsee am frühen Morgen, geheimnisvoll, dunkel, fast violett, aber klar und erfrischend. Er war, passend zu seinem etwas wirren dunklen Haar, sportlich gekleidet, in Cordjeans und teuer wirkendem Rollkragenpullover in der Farbe seiner Augen.
»Ich fahre bis Kiel«, sagte er und verbeugte sich leicht. »Und Sie?«
»Schleswig. Das heiÃt, kurz vorher muss ich umsteigen, in Neumünster.«
»Dann werden wir den halben Tag miteinander verbringen.« Lächelnd hielt er ihr eine Tüte mit blau-weià eingewickelten Bonbons
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