Im Dunkel der Schuld
hin.
Rosie zögerte. Sie mochte Pfefferminzgeschmack nicht, aber es wäre unhöflich, das Angebot auszuschlagen. Tapfer griff sie zu und begann zu lutschen, obwohl sie dringend ihr Valium hätte schlucken müssen. Das machte sie doch sonst immer als Erstes im Zug.
Er zog eine Zeitschrift aus seiner Aktentasche, die sich mit alternativen Heilmethoden und psychosomatischen Beschwerden beschäftigte. Dann grub er noch einmal in der Tasche und legte ein Buch neben sich auf den Mittelsitz. Jon Krakauers In eisige Höhen . Allein der Titel verursachte ihr eine Gänsehaut.
Es war ein Werk, das sie als Buchhändlerin eigentlich kennen musste. Sie beschäftigte sich allerdings nicht viel mit Bestsellern, die meisten waren in ihren Augen Eintagsfliegen, Stapelware und austauschbar. Natürlich informierte sie sich über die gängigen Titel, aber persönlich liebte sie Biografien und die guten alten Klassiker. Jon Krakauers Tatsachenbericht hatte sie nicht gelesen, weil ihr schon das Thema furchterregend erschien.
Ihr Mitreisender folgte ihrem Blick und verzog entschuldigend den Mund. »Ist schon ein paar Jahre alt. Ich weià gar nicht, warum ich es nicht früher gelesen habe. Ich mache ja sonst um sogenannte Bestseller einen Bogen, aber dieses Buch hier ist anders. Sehr packend. Kennen Sie es?«
Rosie schüttelte den Kopf. »Sollte ich eigentlich â¦Â«
»Ein typisches Männerbuch, oder?«
»Das würde ich nicht sagen. Aber ich muss von Berufs wegen so viel lesen, dass ich streng auswähle. Dieses hier muss man nicht selbst gelesen haben, um es empfehlen zu können.«
Er stutzte. »Sagen Sie bloà ⦠Lassen Sie mich raten: Sind Sie Buchhändlerin? Darüber müssen Sie mir mehr erzählen! Ich liebe es, in Buchhandlungen zu stöbern.«
»Das âºEulennestâ¹ ist nur klein.«
Begeistert steckte er die Fachzeitschrift weg und beugte sich vor. »Je kleiner, umso besser sortiert. Ich bewundere Sie. Das ist doch ein traumhafter Beruf! Was lesen Sie am liebsten?«
Als sie durch einen langen Tunnel fuhren, überprüfte Rosie heimlich im spiegelnden Fenster ihr Aussehen. Schrecklich blass und verhärmt sah sie aus, kein Wunder so kurz nach dem Tod ihrer Mutter. Trotzdem hätte sie wenigstens daran denken können, ihren Lippenstift einzustecken. Ach, was waren das nur für Gedanken! Dieser Mann war viel zu attraktiv, um sich für jemanden wie sie wirklich zu interessieren. Ihr Gespräch war reine Fachsimpelei, mehr nicht.
Sie erschrak, als es wieder hell wurde. Hinter dem Tunnel kam doch schon Mannheim, und sie hatte vollkommen vergessen, ihre Tablette zu nehmen.
Weil sie nicht wollte, dass er etwas bemerkte, pulte sie die Tablette verstohlen aus der Schachtel und spülte schnell mit Wasser nach. Dabei rutschte ihr aus Versehen die Packung aus der Hand.
Ihr Begleiter hob sie auf und betrachtete den Aufdruck nachdenklich.
»Valium«, murmelte er. »Wovor haben Sie Angst? Möchten Sie darüber sprechen? Womöglich kann ich Ihnen helfen.«
Siebzehn
Endlich allein! Ebba schlug innerlich drei Kreuze, als sie die Bahnhofshalle durchquerte. Vier Tage mit Rosie auf engstem Raum â das war sie nicht gewohnt, und das wollte sie so schnell auch nicht wiederholen, sosehr sie ihre Schwester liebte. Vielleicht war in ein paar Monaten ein gemeinsames Wochenende auf Sylt möglich, am besten in zwei verschiedenen Hotels. Jetzt aber brauchte sie erst einmal Ruhe und Alleinsein.
Sie startete ihren Audi TT, der für Rosie unübersehbar eine Qual gewesen war, sodass sie schon überlegt hatte, ein Taxi kommen zu lassen oder einen gröÃeren Mietwagen zu nehmen. Dann hatte sie die Idee wieder fallen gelassen, weil sie nicht wusste, ob ihre Schwester das in den falschen Hals bekommen würde. Was war das kompliziert mit ihr!
Schade eigentlich, dass Rosie unverheiratet geblieben war. Wenn sie es richtig verstanden hatte, sehnte sich ihre Schwester sehr nach einer symbiotischen Beziehung zu einem Mann, aber sie fand niemanden, nicht einmal für ein kurzes Abenteuer â vielleicht, weil sie äuÃerlich nichts aus sich machte, vielleicht, weil sie es nicht richtig anstellte. Wahrscheinlich aber, weil sie mit ihrer Anhänglichkeit jeden vergraulte. Welcher Mann fühlte sich schon mit einer Klette wohl?
Auch Ebba wurde der Hals eng, wenn sie an die letzten Tage dachte. Nichts hatte ihre Schwester
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