Im Dunkel der Schuld
namens Jörg erwähnt, aber in ihrem riesigen Loft gab es keinerlei Anzeichen, dass jemand bei ihr wohnte. Es gab keine zweite Zahnbürste, keine Fotos, nicht mal Bier im Kühlschrank. Sie hatte in Rosies Beisein zwar ein paarmal mit diesem Jörg telefoniert, aber diese Gespräche hätte ihre Schwester ebenso gut mit einem Kunden führen können, so knapp und unpersönlich waren sie gewesen.
Rosie unterdrückte ein Seufzen. Wie sehr sie selbst sich eine Beziehung wünschte, konnte sie niemandem sagen. Sie würde sich dem Mann, der sich für sie interessierte, mit Haut und Haaren hingeben. Sie würde ihn verwöhnen, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Alles würde sie für ihn tun, wenn er sie nur liebte und zulassen konnte, von ihr umsorgt zu werden. Aber es gab niemanden. Vielleicht schreckte ihre Behinderung Männer ab, vielleicht sandte sie falsche Signale aus. Ihre männliche Kundschaft jedenfalls hatte nur Augen für Bücher und neuerdings für die junge, hübsche Inken. Sie hingegen behandelten sie wie ein nützliches Möbelstück.
Der Wagen stoppte in der Tiefgarage, und Rosie hielt sich krampfhaft am Türholm fest, um sich daran hochzuziehen und sich so aus der Sardinenbüchse zu schälen. Hoffentlich bemerkte Ebba nicht, wie schwer ihr das fiel.
Ihre Schwester würde bestimmt wieder die Augenbrauen hochziehen und nichts sagen, sich aber unweigerlich an den schrecklichen Tag erinnern, an dem sie sich das Bein gebrochen hatte. So war es immer, wenn sie stöhnte. Und immer erntete sie den gleichen mitleidigen Blick. Wenn es nur aufhören könnte!
Sie wollte kein Mitgefühl. Und sie wollte schon gar nicht irgendwem zur Last fallen. Deshalb war sie auch erleichtert gewesen, dass Ebba sie auf der Couch schlafen lieÃ, anstatt ihr das Bett zu geben, wie sie es umgekehrt getan hätte. Sie war sogar heilfroh darüber, denn in dem Schlafzimmer mit der riesigen Fensterfront hätte sie kein Auge zugemacht. Es war schon schlimm genug, wenn sie mehrmals am Tag zwischen Bett und Abgrund hindurchbalancieren musste, um in den Badbereich zu gelangen. Sie versuchte, diesen Weg so selten wie möglich zu gehen, nicht nur wegen ihrer Höhenangst, sondern auch, weil sie sich dort ohne jede Privatsphäre unwohl fühlte. Eine Wohnung ohne Türen! Da konnte Ebba noch so stark und unabhängig tun â einen Spleen hatte sie aus der Kindheit dennoch zurückbehalten. Jede von ihnen hatte das.
Ebba in diesem Apartment zu erleben hatte sie auch verstehen lassen, warum ihre Schwester sie in ihrer Kate an der Schlei kein zweites Mal besuchen würde. Sie bekam in den gemütlich kleinen Räumen schlicht Platzangst.
Ebba hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah sie ungeduldig an.
Sie schien etwas gefragt zu haben und nun auf eine Antwort zu warten.
»Hast du was gesagt? Entschuldige bitte, ich war in Gedanken.«
»Ich möchte wissen, ob du Kaffee oder Tee willst.«
Was würde Ebba weniger Mühe bereiten? Was trank ihre Schwester lieber? Sie sollte nicht extra für sie etwas aufbrühen.
Rosie ertappte sich dabei, wie sie ihre Hände knetete.
Auch Ebba hatte es bemerkt und zog scharf ihren Atem ein. O Gott, sie war genervt!
»Meine Güte! Jetzt sag einfach, was du willst, anstatt zu grübeln, was mir weniger Arbeit machen würde. Wenn es mir nicht piepegal wäre, hätte ich nicht gefragt. Also?«
Ebba meinte es bestimmt nicht böse. So war sie eben: kompromisslos. Und immer wollte sie Entscheidungen von ihr. Was sollte sie nur sagen? Rosie verschwamm alles vor den Augen.
Vier Tage zu zweit in einer Wohnung waren wirklich etwas viel, vor allem für jemanden wie Ebba. Kein Wunder, dass sie gestresst war. Den Nachtzug zu nehmen war vielleicht eine gute Idee.
Andererseits würde sie morgen gern noch einmal zum Grab gehen, bevor sie fuhr. Was sollte sie nur tun oder sagen?
Ebba brummte etwas und machte sich an ihrer Küchenzeile zu schaffen, lieà die laute Kaffeemaschine laufen und setzte Wasser auf.
»Ach, Rosie, komm schon. Ich mein es doch nicht böse«, sagte sie, bestimmt lauter, als sie es vorgehabt hatte.
Rosie zog den Kopf ein. »Soll ich noch heute Abend fahren?«
Ihre Schwester grunzte und goss das kochende Wasser in eine Kanne. »Wonach steht dir denn der Sinn?«
Ihr fiel keine Antwort ein. Für und Wider wirbelten haltlos durch ihren Kopf, bis
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