Im Dunkel der Schuld
fast leeres Glas Erdbeermarmelade. Auch sonst war die Küche so sauber, als habe Frieda sie kurz vor der Tabletteneinnahme noch gründlich geschrubbt und desinfiziert. Gut, die junge Kriminalbeamtin hatte gesagt, dass die Polizei den Abfall zur Ãberprüfung mitgenommen habe. Aber warum gab es keine Nudeln, keinen Reis, keine Tomatendosen oder was man sonst als Vorrat stapelte? War das normal? Aber was war schon normal, wenn man aus dem Leben scheiden wollte? Hatte Frieda alles geordnet hinterlassen wollen?
Und wenn es kein Selbstmordversuch gewesen war?
Ebba kribbelte die Kopfhaut, doch sie zwang sich, nicht hinzufassen. Wie erstarrt blieb sie stehen, als könne das Unheil sie gleich aus irgendeiner Ecke anspringen und ihr den Garaus machen. »Wer wird der Nächste sein?«, fiel ihr wieder ein, und endlich kam sie zu sich. Das war ja irre, was sie sich hier zusammenreimte! Sie sollte endlich anfangen einzupacken. Der Fall Frieda war polizeilich abgeschlossen, es gab kein Fremdverschulden, und Georgs Tod war ein natürlicher gewesen, er war immer schon herzkrank. Warum ihre Familienmitglieder kurz vor ihrem Tod irrational gehandelt hatten, blieb offenbar ihr Geheimnis. Was würde sie wohl tun, wenn ihr Körper ihr einmal sagte, dass es vorbei war? War es nicht völlig normal, »unnormal« zu reagieren? Aber in einen Lift steigen? Schlaftabletten nehmen?
Nun, hier sah es allerdings fast so aus, als habe sich Frieda Seidel tatsächlich systematisch auf den Tag vorbereitet, an dem sie aus dem Leben scheiden wollte, nach Möglichkeit spurlos. Das passte überhaupt nicht ins Bild. Alles in Ebba sträubte sich gegen diese Vorstellung.
Auf dem Küchentisch lag die Visitenkarte der Kripobeamtin, und aus einer Eingebung heraus wählte Ebba mit ihrem Handy die aufgedruckte Nummer. Eine männliche Stimme meldete sich und erklärte, dass die Kollegin dienstfrei habe. Ebba legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Was sollte sie schon sagen? Sie könne immer noch nicht glauben, dass ihre Mutter sich Schlaftabletten besorgt hatte, um sich umzubringen?
Ob sie mit dem Arzt im Krankenhaus über das Phänomen reden sollte, dass es der Patientin in Wellen besser und schlechter gegangen war? Aber was würde das bringen? Frieda Seidel war tot und beerdigt. Nichts machte sie wieder lebendig, genauso wenig wie Georg. Auch er hatte entgegen seinem Naturell etwas Unerwartetes getan und war daran gestorben. Vielleicht eine psychische Störung? Oder hatte er sich etwas beweisen wollen? Vielleicht hatte er sich endlich seinen Ãngsten stellen wollen? Vielleicht hatte er Maria deshalb weggeschickt, um auszuprobieren, wie stark er sein konnte, wenn er für niemanden verantwortlich sein musste? Ebba versuchte sich zu erinnern, wie er damals begründet hatte, dass Maria ein paar Tage nicht in Heidelberg sein sollte.
»Ich will etwas überprüfen«, hatte er gesagt. Ja, das passte. Trotzdem! Würde sie sich freiwillig in eine Truhe legen? Allein die Vorstellung bereitete ihr Ãbelkeit. Kein Wunder, dass Georg gestorben war, als er sich den Aufzug für die Mutprobe ausgesucht hatte.
Wenn es so gewesen war.
Ach, Blödsinn! Ebba schüttelte den Kopf und begann, blaue Müllsäcke zu füllen. Dann nahm sie sich noch einmal die Aktenordner und Dokumentenmappen vor, die sie zunächst in eine groÃe Kiste gelegt hatte, und blätterte die Unterlagen durch. Erstaunlich, wie ihre Mutter, die doch sonst einen etwas weltfernen Eindruck gemacht hatte, immerhin fast eine Million Euro in kleinen Einheiten von zehn- und zwanzigtausend Euro angelegt hatte. Sie investierte â zunächst in D-Mark, dann in Euro â in Firmenanleihen, Aktien, Immobilienfonds, in Eisenbahnen und Schiffsbauer, eine Eisenerzmine, Hedgefonds, Termingeschäfte, Fondsanteile und Inhaberschuldverschreibungen und tauschte diese immer wieder gegen aktuellere und neuere Anlagen ein, und das alles offenbar ohne fremde Hilfe. Es gab jedenfalls keinen Hinweis auf einen Vermögensverwalter oder Bankberater.
Auch Friedas Testament war hier abgeheftet, das sie, Ebba, zur Vollstreckerin ernannte. Nun gut, sobald das Nachlassgericht grünes Licht gab, würde sie, entgegen dem Willen der Mutter, Maria die eine Hälfte des Vermögens auf die Philippinen transferieren und Rosie die andere Hälfte überweisen. Sie selbst wollte nichts, auch wenn ihre Mutter ihr natürlich ein
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