Im Dunkel der Schuld
Wohnung ihrer Mutter keinen Aufschub mehr duldete. Je eher sie es hinter sich brachte, desto besser. Es war ja nicht nur ein einfaches Sichten von Gegenständen in einer makellos ordentlichen Wohnung. Es war auch ein notwendiges, aber unangenehmes Herumstochern in der Privatsphäre ihrer Mutter. Und auÃerdem saà ihr ein kleiner, irrationaler Angstteufel im Nacken und plagte sie umso mehr, je angestrengter sie ihn zu verdrängen versuchte: Bald würde es kein Entrinnen mehr geben, sie konnte die Sache von damals nicht länger wegsperren. Irgendwo im Nachlass ihrer Mutter würde es lauern, das Grauen von einst, das nahtlos in noch grauenvollere Schuld übergegangen war. Aber würde sie heute anders handeln als damals? Ebba wagte nicht, den Gedanken zu vertiefen.
Sie war froh, dass sie sich auf den Verkehr konzentrieren musste; es wurde schlimmer, je näher sie Freiburg kam. Stop and go im Ferienstau nahmen fast kein Ende, sie brauchte fast drei Stunden für die Strecke. SchlieÃlich parkte sie ihren kleinen Wagen am stillen Klosterplatz, blieb hinter dem Steuer sitzen und sah zur Wohnung hinauf. Wie hässlich der Neubau aussah, der zwischen alter Bausubstanz hochgezogen worden war! Er war das einzige Gebäude in der Umgebung, das fünf Stockwerke besaÃ, was die Wohnung ihrer Mutter wie einen Pickel aus dem sonst so einheitlichen gefälligen Dächergefüge hochragen lieÃ. Ebba konnte gut nachvollziehen, weswegen ihre Mutter diese und keine andere Wohnung hatte mieten wollen: Zum einen lag der groÃzügige Klosterbereich, in dem sich ihr Betkreis regelmäÃig traf, direkt gegenüber, zum anderen hatte sie von oben freien Blick zur Turmspitze des Freiburger Münsters â und auf die vielen anderen Kirchtürme der Stadt. Das war immer wichtig für sie gewesen.
Und was hatte es geholfen? Wo waren all die wohlmeinenden Freunde gewesen, als es ihr schlecht ging? Hatte sich irgendjemand um sie gekümmert, als sie im Krankenhaus lag? Einsam und verzweifelt hatte sie sterben müssen, nicht einmal der Pfarrer hatte ihr die Hand gehalten. Nächstenliebe, Verzeihen, Vergebung â Ebba erschrak, wie viel Resignation und Verachtung bei diesen Wörtern in ihr hochkamen.
Eigentlich konnte sie froh sein, dass sie schon so früh gelernt hatte, sich ausschlieÃlich auf sich selbst zu verlassen. Niemand würde sie enttäuschen oder hintergehen können, sie würde niemals jemanden so nahe an sich herankommen lassen, dass er ihr wehtun konnte. Manchmal tat es ihr leid, dass sie sogar Jörg auf Distanz hielt. Er liebte sie, das zeigte er durch tausend kleine Dinge, vor allem auch durch den groÃen Respekt, mit dem er ihren Drang nach Freiheit akzeptierte. Wenn Liebe etwas mit Selbstlosigkeit zu tun hatte, konnte er ihr wirklich keinen gröÃeren Beweis für seine Zuneigung schenken.
Immer noch saà Ebba in ihrem Auto und blickte hinauf zur Dachwohnung ihrer Mutter. Allmählich kroch die Kälte ins Wageninnere, und sie sehnte sich nach einem heiÃen Kaffee. Den würde sie dort oben nicht finden, höchstens einen Kräutertee, Melisse womöglich. Damit hatte ihre Mutter sie und ihre Geschwister schon in ihrer Kindheit gequält, wenn sie nicht schlafen konnten. Statt nachzufragen, was ihre Kinder beunruhigte, hatte sie ihnen Tee gekocht und sie allein gelassen.
Was würde sie wohl da oben â auÃer der gefürchteten Vergangenheit â vorfinden? Eine Erklärung für die Lieblosigkeit ihrer Mutter? Lächerlich. Sie würde nie eine Erklärung bekommen â es gab einfach keine. Sie sollte besser ihren Verstand einschalten. Wie viel Zeit wollte sie noch vertrödeln? Es musste getan werden. Nicht irgendwann, sondern jetzt!
Energisch zerrte sie ein paar Faltkisten aus ihrem Flitzer, stieg die Treppe hinauf und krempelte die Ãrmel hoch.
Die Wohnung war mustergültig aufgeräumt. Nichts Ãberflüssiges stand oder lag herum. Frieda Seidel war eine extrem ordentliche Frau gewesen. In der Schublade für Unterwäsche war eben nur Unterwäsche, im Geschirrschrank nur Geschirr und kein Geldschein zwischen Zuckerdose und Sahnekännchen, im Regal in der Küche tatsächlich ein Beutel Melissentee, aber nur einer. Merkwürdig. Wo war der Vorrat an Teemischungen, den Frieda stets so stolz gehortet hatte?
Es gab auch im Kühlschrank nichts Essbares, nicht einmal etwas Verschimmeltes, nur ein
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