Im Dunkel der Schuld
Sonntag im Laden saà und online war. Privat hatte sie keinen Computer, keine Mail-Adresse. Es war zum Verrücktwerden. Sie musste irgendjemanden erreichen, der ihr sagen konnte, ob mit Rosie alles in Ordnung war. Aber wen?
Ebba dachte nach. Was wusste sie überhaupt von Rosie? Ganz ohne jegliche soziale Kontakte konnte doch kein Mensch existieren. Vielleicht hatte eine Kundin sie zum Kaffee eingeladen, oder eine Nachbarin brauchte Hilfe. Namen, Namen! Sie kannte keine. Es gab keine Vorkehrungen für Notfälle â das ging Ebba jetzt erst auf, und das war schlecht. Aber eigentlich nicht verwunderlich. Auch Rosie kannte Jörgs vollen Namen oder seine Telefonnummern nicht, vielleicht würde sie sich daran erinnern, dass ihre Assistentin Frau Hilpert hieÃ, aber die hatte sie nur ein-, zweimal gesehen. Wie würde Rosie sie ausfindig machen, wenn ihr etwas zugestoÃen war?
So ging das nicht weiter. Sie mussten sich unbedingt ein System überlegen, wie sie sich im Ernstfall gegenseitig ver ständigten oder an Informationen kamen. Sie konnte schlecht die Polizei anrufen oder die Krankenhäuser nerven, nur weil ihre Schwester übers Wochenende abgetaucht war. Rosie war eine erwachsene Frau, die einfach nur nicht ans Telefon ging.
Und wenn ein Mann im Spiel war?
Ebba lachte laut auf. Ein heimlicher Geliebter? Das hätte Rosie ihr doch erzählt. Nein, es gab niemanden.
Jörg war bereits auf dem Rückflug nach Baden-Baden, sonst hätte sie ihn gebeten, einen Umweg zu machen und nach dem Rechten zu sehen. Es half nichts, sie musste bis Montag früh warten, falls Rosie nicht doch noch den Anrufbeantworter abhörte, ihre Mails abrief oder überhaupt auf den Gedanken kam, dass ihre Schwester sich Sorgen machte. Was ihr ein schrecklich schlechtes Gewissen verursachen würde. Wahrscheinlich würde sie sich danach zur Pflicht machen, täglich dreimal anzurufen, zu festen Zeiten, zu denen sie hier in Baden-Baden garantiert stören würde.
Grimmig tippte Ebba auf die Wahlwiederholung. Es läutete, niemand hob ab. Sollte sie im Internet nach einem Gasthaus in Arnis suchen? Den Besitzer bitten, bei Rosie vorbeizugehen? Das wäre ihrer Schwester garantiert peinlich. Vielleicht waren ihre, Ebbas, Nerven einfach nur überspannt, weil sie sich so über den alten Zeitungsausschnitt aufgeregt hatte.
Unwillkürlich warf sie einen Blick auf das Papier, das in Reichweite lag. Ausgerechnet in der Hochzeitsnacht! Mit dem Gewehr in den Kopf. Alles voller Blut. Tür an Tür mit seiner einzigen Tochter, die einmal den Betrieb hatte übernehmen sollen. Eine Wurstfabrik.
Wurstfabrik. Ebba schüttelte den Kopf. Wie schrecklich diese Vorstellung wohl für ihre Mutter gewesen war! Sie hatte zeit ihres Lebens niemals Wurst oder Fleisch angerührt, hatte ihnen auch nie einen Braten oder Gulasch serviert, hatte sich schaudernd abgewandt, wenn Bruno sich ein Steak grillte und es sich halb roh auf dem Teller zerschnitt oder wenn er in eine fetttriefende Blutwurst biss.
War es ihrer Mutter mit ihrem Vater vielleicht ähnlich ergangen wie ihrer Tochter mit Bruno? Hatte auch sie ihren Vater enttäuscht? Und später Bruno? Vielleicht war sie deshalb nach auÃen so scheu und weltfremd gewesen. Vielleicht hatte sie sich alles von ihrem brutalen Ehemann gefallen lassen, weil sie hoffte, er würde sich ihr irgendwann doch zuwenden, würde ihr ein Kompliment machen, ihr übers Haar streichen, sie in den Arm nehmen, sie so anerkennen, wie sie wirklich war. Womöglich war Frieda an der auch Ebba so wohlbekannten Lieb- und Achtlosigkeit zerbrochen.
Ebba wünschte sich plötzlich, mit Rosie über all das reden zu können. Sie machte sich inzwischen ebenfalls Vorwürfe. Wann hatte sie selbst denn Frieda ein liebes Wort geschenkt? Es war kein Wunder, dass sich Frieda Seidel in den letzten Jahren immer weiter von ihrer Familie entfernt und ihr Heil in der Kirche und im Gebet gesucht hatte.
Wie unglücklich das Leben ihrer Mutter gewesen war! So durfte Rosie nicht auch enden. Sie durfte nicht einsam in ihrer Kate sitzen und sich in die Welt der Bücher flüchten. Das war genauso verkehrt wie der Weg ihrer Mutter. Sie mussten ihr Leben ändern, alle beide.
Ebba legte den Zeitungsartikel in eine Schublade und versuchte, sich zu beruhigen. Gleich würde Jörg kommen. Er war alles, was man im Glücksfall von einem Mann erwarten konnte. Hoffentlich blieb
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