Im Dunkel der Schuld
ungeheuerliche Nachricht von Rosies angeblichem Tod erfahren hatte, erwogen, sich einen Leihwagen zu nehmen. Michael Maurer hatte es ihr jedoch am Frühstückstisch ausgeredet. Er hatte recht. In dem Zustand hätte sie sich unmöglich ans Steuer setzen dürfen. Es fiel ihr ja schon schwer, hier in diesem GroÃraumabteil ihre Gedanken zu ordnen.
Eigentlich gab es nichts zu ordnen.
»Heute Nacht hat sich ein Unglücksfall ereignet. Wir vermuten, dass die Betroffene Ihre Schwester Rosamaria Seidel ist«, hatte der Mann am anderen Ende der Leitung gesagt. Seine Stimme klang warm und mitfühlend. Er stellte sich als Eckhard Asmus vor, Hauptkommissar des Kriminalkommissariats 1, Dezernat für Tötungsdelikte. Erst da dämmerte ihr, dass Rosie vielleicht nicht in einen Autounfall verwickelt gewesen war, und sie bohrte so lange weiter, bis der Mann ihr zögernd mitteilte, dass Rosie aus dem achten Stock des Wikingturms gestürzt war. Dass Ebba das für ausgeschlossen hielt, lieà der Mann nicht gelten. Alles Weitere werde man besser in einem persönlichen Gespräch klären, sagte er. Er sei den ganzen Tag auf der Dienststelle, sie könne ihn aufsuchen, wann immer sie in Schleswig ankomme. Ob er sie vom Bahnhof abholen solle? Ebba hatte es verneint, doch jetzt bereute sie es. Jede Minute Ungewissheit war zu viel.
Bruno, Georg, Frieda â und jetzt Rosie.
Ebba schloss die Augen. Sie weigerte sich, den letzten Namen in die Reihe der Toten aufzunehmen. Sie brauchte zuerst Gewissheit. Mit eigenen Augen.
Jeder Halt zog sich bis ins Unerträgliche. Düsseldorf, Duis burg, Essen, Bochum, Dortmund, Münster, Osnabrück, Bremen, Hamburg. Umsteigen. Mechanisch das neue Gleis, einen neuen Platz suchen. Der Zug war leerer als der erste. Neumünster, Rendsburg. Gleich würde Schleswig kommen. Sechs Stunden.
Von Schleswig nach Freiburg waren es sogar acht Stunden. Was für eine Tortur das für Rosie immer gewesen sein musste! Sie hatte sich stets mit Tabletten vollgepumpt, um ihre Angst vor den Brückenüberquerungen zu betäuben. Niemand hatte sich darüber Gedanken gemacht. Warum auch? Rosie tat ja immer alles, um zu gefallen. Sie beklagte sich nie, sie schien im Gegenteil froh zu sein, wenn man ihr sagte, was sie tun sollte, in der Hoffnung, gelobt zu werden. Ebba presste die Stirn ans Fenster. Selbst das hatte sie nicht getan, sondern hatte es als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Rosie in Freiburg erschien.
Nicht an Rosie denken.
Schleswig. Endlich.
Ebba winkte einem Taxi, lieà sich zur Polizeidienststelle fahren. Zum Glück musste sie nicht lange auf Asmus warten. Ein baumlanger Wikinger Anfang vierzig mit rotblondem Vollbart, Glatze und Bierbauch empfing sie. Seine Miene war genauso warm wie sein Händedruck.
»Mein Mitgefühl.«
Ebba schüttelte den Kopf. »Es muss eine Verwechslung vorliegen.«
Er machte eine Handbewegung, und sie folgte ihm durch einen langen Flur in sein Dienstzimmer. Es war überhitzt und roch nach kaltem Zigarettenrauch und Bohnerwachs. Die Möbel waren abgenutzt. Wahrscheinlich hatte er sie schon von seinem Vorgänger übernommen. Auf der Fensterbank ein kränkelnder Gummibaum, vermutlich ebenfalls vom Vorgänger.
Asmus lieà sich in seinem Drehstuhl nieder, der ächzte und quietschte. Akten stapelten sich auf dem Schreibtisch, und eine Plastiktüte lag dort. Ebba sah nicht hin. Sie hatte auf den ersten Blick etwas Rotes entdeckt, das Rosies geliebtem Wollschal ähnelte. Aber welche Frau trug kein Rot? AuÃerdem konnte das Ding in der Tüte genauso gut eine Mütze oder ein Paar Handschuhe sein.
Er deutete auf ihr Gepäck. »Haben Sie schon ein Hotel?«
»Sobald sich alles aufgeklärt hat, nehme ich einen Leihwagen und fahre nach Arnis. Wenn Rosie nicht zu Hause ist, miete ich mir dort ein Zimmer und warte, bis sie zurückkommt. Sie geht nicht ans Telefon, aber das ist öfter der Fall.«
Asmus zwinkerte kurz, dann räusperte er sich vorsichtig, was sich schrecklich anhörte. So, als würde er sie nicht für voll nehmen und nicht wissen, wie er mit ihr umgehen sollte. So, als habe er Gewissheit, dass Rosie ⦠Aber er kannte sie nicht. Er hatte die Frau doch nicht als Rosie identifizieren können, wenn er sie nicht kannte.
»Ich nehme als Erstes Ihre Personalien auf, Frau Seidel. Möchten Sie einen Kaffee?«
Ebba sah auf die Armbanduhr und
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