Im Dunkel der Waelder
Alle haben mich gefragt, wie es Ihnen geht, Elise. Ich habe sie, so gut ich konnte, beruhigt. Claude will Sie morgen besuchen.«
»Wer möchte Obstsalat?« fragte Yvette.
Eine kleine Hand legt sich auf die meine, und in dem allgemeinen Stimmengewirr, das auf Yvettes Bemerkung folgt, flüstert mir ein zartes Stimmchen ins Ohr:
»Ich habe dir ja gesagt, du sollst aufpassen. Die Bestie hat dich bemerkt, und sie ist böse auf dich. Und weißt du, ich glaube, daß bald ein anderes Kind bestraft wird.«
Bestraft?
»Mathieu Golbert. Er ist in der zweiten Klasse und macht immer großes Theater um nichts. Die Bestie findet ihn hübsch. Das ist ein schlechtes Zeichen. Wenn sie mir sagt, daß ich hübsch bin, verstecke ich mich, denn ich weiß, was das heißt. Ich warte, bis es vorbei ist, verstehst du …? Ich will auch Obstsalat!«
Nein, warte, Virginie, warte. Wie war der Name? Mathieu. Mathieu Golbert. Ja, ich kenne ihn, seine Mutter hat einen Friseursalon, sie waren oft im Kino, ein hübscher, kleiner Junge mit großen blauen Augen. Was soll ich tun? Ich muß Yssart verständigen. Und wenn Virginie nun die Wahrheit sagt …
Oh, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll, dieses Kind ist so eigenartig!
Eine Hand auf meiner Schulter, ich zucke innerlich zusammen. Eine große, feste Hand. Paul. Er sagt nichts. Er drückt nur meine Schulter und streicht mit dem Daumen leicht über meinen Nacken. Es dauert nur wenige Sekunden, dann zieht er die Hand zurück. Ich habe den Eindruck zu erröten. Also war er es in jener Nacht. In jener Nacht. Es kommt mir vor, als würde sie schon Wochen zurückliegen. In den letzten vierundzwanzig Stunden habe ich mehr erlebt als in den zehn Monaten davor.
Alle sind gegangen, und ich liege in meinem Bett. Ich spüre, daß ich gleich einschlafen werde. Bilder jagen durch meinen Kopf. Virginie, Paul, Stéphane, Hélène, Yssart, Jean Guillaume … Alles Menschen, die ich mir nur in Gedanken vorstellen kann, farbige Phantombilder. Sollte ich eines Tages wieder sehen können, werde ich sicherlich erstaunt sein, wie sie in Wirklichkeit aussehen. Mathieu Golbert. Ich muß etwas unternehmen …
5
Es hört nicht auf zu regnen. Ein typischer Sommerregen: kraftvoll, ausgelassen und stürmisch wie ein junger Hund. Normalerweise mag Yvette es nicht, wenn es regnet, doch momentan ist sie sehr beschäftigt. Sie überlegt, was sie für Jean Guillaume kochen soll, den sie für morgen abend wieder eingeladen hat. Nach dem gestrigen Gewaltausbruch ist wieder Ruhe eingekehrt. Eine heimtückische, beängstigende Ruhe. Ich habe das Gefühl, im Auge eines Zyklons zu sitzen. Als ich aufwachte, galt mein erster Gedanke Mathieu Golbert. Und während Yvette mich wusch und ankleidete, habe ich die ganze Zeit krampfhaft überlegt, was ich tun könnte, doch ohne Ergebnis. Es klingelt an der Haustür. Ich habe das Gefühl, in einer Boulevardkomödie mitzuspielen: Ununterbrochen treten Personen auf oder verlassen die Bühne. Ich höre, wie Yvette ruft:
»Oh, mein Gott! Wie sehen Sie denn aus! Tut es sehr weh?«
Stéphane: »Nein, nein, es geht … ist Elise zu Hause?«
Nein, sie ist zum Ballettunterricht gegangen, sage ich im stillen.
»Es ist Monsieur Migoin, Mademoiselle.«
Er kommt schweren Schrittes auf mich zu. Ich trage einen Morgenmantel und die Sonnenbrille. Er bleibt stehen. Ich höre ihn atmen. Yvette ist hinausgegangen. Wir sind allein, nur der Regen ist zu hören.
»Elise …«
Seine Stimme klingt merkwürdig, ein wenig heiser, kindlich.
»Es tut mir entsetzlich leid. Wenn ich den Kerl nur kommen gehört hätte … Sie müssen große Angst gehabt haben …«
Er nimmt meine Hand und drückt sie mit seinen großen Pranken, die ich mir rot und behaart vorstelle. Mein Magen krampft sich zusammen, als ich daran denke, daß es möglicherweise diese Hände sind, die vier Kinder getötet haben.
»Sie müssen denken, ich sei ein bißchen verrückt …«
Zeigefinger.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich … seit ich Ihnen begegnet bin, denke ich nur noch an Sie.«
Er kennt mich doch überhaupt nicht, weiß weder, wie meine Stimme klingt, noch, was für Ansichten ich habe. Ist er in eine Puppe verliebt oder was?
»Sie wirken so sanft.«
Ich? Ich bin eine Giftnudel. Gehässig, jähzornig, eine keifende Xanthippe. Benoît pflegte immer zu sagen, ich wäre der schwierigste Mensch der gesamten nördlichen Hemisphäre.
»Ich liebe Ihr Gesicht, Elise, Ihre Lippen, Ihren Hals, Ihre Schultern …
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