Im Dunkel der Waelder
getötet, ich sage, ich habe ihnen Leid erspart, ihnen Frieden gegeben, den süßen Frieden des Todes. Ich verlange auch gar nicht, daß du mich verstehst. Es ist mir egal, ob man mich versteht oder nicht. Ich bin frei. Ich unterliege nicht euren dummen Moralvorstellungen. Wenn es eine Moral gäbe, wäre Max noch da … Mit ihm wäre alles anders geworden. Ich hätte die Gewalt vergessen können, den bitteren Geschmack der Gewalt, die Angst, doch so ist es nicht gekommen, das Rad des Schicksals hat sich in eine andere Richtung gedreht …«
»Aber wer ist Max?« wundert sich Guillaume.
»Ein Engel. Max war ein Engel. Ein Engel der Erlösung. Er ist gestorben, um das Leid der Welt zu sühnen.«
»Eine Art Jesus?« fragt Guillaume, der, so vermute ich, sich bemüht, sie zum Reden zu bringen.
»Wenn Sie es so sehen wollen …«, meint Hélène ironisch. »Genug von Max gesprochen, das Thema ist beendet. Jetzt …«
Sie beendet den Satz nicht, so als überlege sie.
»Und jetzt?« wiederholt Guillaume mit dumpfer Stimme.
»Jetzt muß ich gehen. Es tut mir leid, meine lieben Freunde, aber ich kann euch leider nicht mitnehmen.«
Eine wahnsinnige Hoffnung keimt in mir auf: Sie geht? Geht sie wirklich?
»Aber ich kann euch auch nicht allein zurücklassen … Aber seid unbesorgt, das Feuer der Freundschaft wird stets zwischen uns brennen.«
Das Feuer der Freundschaft? Das Streichholz … die Kerze … oh, verflucht …
»Ich werde den Kasten mitnehmen, dessen Inhalt unser guter Tony so grandios analysiert hat, und dann werde ich gehen. Freut mich, eure Bekanntschaft gemacht zu haben. Elise, ich hoffe, daß Sie schrecklich leiden werden, ich habe Sie immer gehaßt. Und gestatten Sie mir diese Bemerkung: Ihre Frisur ist wirklich grauenhaft.«
Das ist doch grotesk. Das einzige, was ihr einfällt, bevor sie uns alle bei lebendigem Leib verbrennen läßt, ist, daß meine Frisur häßlich ist! Das ist doch wirklich zum Weinen!
»Ich weiß wirklich nicht, was er an Ihnen gefunden hat.«
Er? Wer ist ›er‹? Sie meint doch nicht etwa …
»Der liebe, gute Benoît … Er wollte Ihnen alles nach dem Urlaub beichten, aber leider, leider hatte er dazu nicht mehr die Gelegenheit, und so haben Sie die letzten Minuten mit ihm verbracht …«
Mir was beichten? Ich will es nicht hören. Benoît wird doch nicht …
»Ein paar Monate, nachdem ich die Seele des kleinen Charles-Eric befreit hatte, habe ich das erste Mal mit ihm geschlafen. Er wollte, daß ich Paul verlasse und wir zusammen weggehen. Aber ich konnte nicht, Renaud wurde acht, er hatte das gleiche Lächeln wie Max, und sein Haar war so weich, so glänzend … Sie verstehen, ich mußte es tun … also konnte ich Benoîts Bitten, mit ihm wegzugehen, nicht nachgeben.«
Ein Sturm tobt in mir. Ein doppelter Sturm. Sie hat Renaud getötet, sie hat den Sohn ihres Mannes getötet. Und Benoît und sie … Benoît hat mich betrogen, Benoît hat mich angelogen, Benoît, mein Benoît mit dieser …
»Hören Sie nicht auf Sie! Benoît hat Sie geliebt, aber Hélène ließ einfach nicht locker, sie klebte an ihm wie Pech«, ruft Tony.
»Sei still!«
Das Geräusch von Schlägen.
»Ich bin froh, daß Sie zusammen mit Tony sterben werden. Ich weiß nicht, wen von euch beiden ich mehr hasse: Tony, den Oberlehrer, oder die ach so reizende Elise …«
»Hélène! Ist dir klar, daß du all diese Kinder getötet hast? Für nichts und wieder nichts! Daß sie tot sind, endgültig tot, daß von ihnen nichts mehr übrig ist außer ein paar Fetzen Fleisch, mit denen du nichts anfangen kannst«, sagt Tony langsam und deutlich. »Stücke von menschlichen Kadavern, die verwesen werden!«
»Tony, Liebling, ich mache mir Sorgen um dich, große Sorgen, du bist immer so rational … Du verstehst nichts, rein gar nichts … (Ihre Stimme überschlägt sich.) Du hast es nie begriffen, sie sind nicht tot, hörst du, sie haben ihren Frieden gefunden, sie sind bei mir, in mir, für immer, und nicht auf dieser schlechten, verkommenen Welt, sie gehören mir!«
»Sie sind tot, Hélène, einfach tot, und sie gehören niemandem mehr …«
Sie holt tief Luft, und ihre Stimme wird gefährlich sanft.
»Mein armer Tony, ich mache mir wirklich Sorgen …«
Sie kommt näher, man hört einen heftigen Schlag, irgend etwas zerbricht und Tony schreit kurz auf, dann noch einmal.
»Tony, Liebling, ich glaube, ich habe dir die Nase gebrochen … Du kriegst aber noch Luft, oder? Egal, bald kannst du sowieso nicht
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