Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Patrouillen. Plötzlich begann der Fliegeralarm zu heulen und dann galt es, zum nächsten Luftschutzkeller loszulaufen in dem, was du dir an Kleidern überwerfen konntest. Frauen und Kinder, Alte und Kranke. Die Bomben begannen zu fallen. Erst hörtest du das charakteristische Pfeifen. Dann wurde es ganz still. Totenstill. Und dann kam die Explosion: Die Erde konnte unter dir beben oder es war so weit weg, daß du gerade soeben das Geräusch hörtest. Trotzdem war es nicht weniger furchterregend. Wenn der Fliegerangriff vorbei war und die Entwarnung kam, ging es wieder nach Hause. Unten am Kai war dann vielleicht ein riesiger Lichtschein: ein Schiff, das in Flammen stand, Häuser auf Nordnes, die abbrannten, verzweifelte Menschen, die herauszuholen versuchten, was sie an Besitz hatten, Weinen und Schimpfworte, Flüche auf Deutsch und Norwegisch, Schreie von Sterbenden oder Verwundeten …«
Sein Gesichtsausdruck war jetzt bitter; die Nervosität war der Verbitterung gewichen, die er bei diesen vierzig Jahre alten Erinnerungen immer noch empfand. »Aber meistens lagen die Straßen dunkel, die Häuser verschlossen, hinter heruntergelassenen Rollos. Dort trafen wir uns, machten neue Pläne, druckten illegale Zeitungen und Flugblätter, saßen vor provisorischen Radioapparaten und hörten London. Und durch diese Straßen kam leise ein Wagen gerollt, stoppte an einer Bordsteinkante, beladen mit Männern in dunklen Mänteln und mit bleichen, schmalen Gesichtern. Dann ein Zeichen und der Wagen leerte sich. Die Männer in den langen Mänteln liefen schnell zu einem Haus, mit Pistolen in den Fäusten, stapften eine Treppe hoch, bezogen vor einer Tür Stellung, ein schnelles Kommando wurde erteilt und die Tür aufgetreten, ein Ausruf, jemand war dabei, die Sachen zusammenzustapeln, irgendjemand griff nach einer Schußwaffe, es wurde geschossen, aber es war schnell vorbei. Ein Norweger lag tot oder verletzt auf dem Boden, die anderen wurden an die Wand gestellt und waren bald auf dem Weg zum Arrest. Gestapo.«
Er spuckte das Wort fast aus. »Gestapo. Kannst du dir ein häßlicheres Wort denken? Zischend – wie die Schlangenbrut, die sie waren, Satans schwarzes Schleimgetier … Sie ähnelten nicht einmal gewöhnlichen Deutschen, sondern waren klein und verschrumpelt, wie Miniaturteufel. Sogar heute noch packt mich die Angst, wenn ich nur an sie denke. Nicht eine Stunde schliefen wir ruhig, Veum – und am schlechtesten gegen Morgen. Denn dann kamen sie, in der Stunde der Morgendämmerung. Die Stunde der Wölfe, weißt du, wann das ist?«
Ich nickte.
»Die letzte Stunde vor Tagesanbruch. Die Stunde, in der die meisten Menschen sterben. Da kamen sie, als seien sie die Gesandten des Todes. Gestapo.«
Er hielt einen Augenblick inne, nahm einen Schluck aus seinem Glas, stellte es hart ab. »Und das Schlimmste war: der Feind war mitten unter uns. Die Gestapo hatte ihre Helfer, und das Allerabscheulichste, was in diesen Jahren geschah, war, daß Norweger Norweger verrieten, es waren Norweger, die mit dem Finger auf Norweger zeigten und sagten, daß er und sie und da und dort! Ohne die Denunzierungen wäre die Gestapo nie so effektiv gewesen, wie sie war.«
Er sah verbittert vor sich hin. »In Bergens dunklen Straßen lebte eine besondere Gattung Kloakentiere, schlimmer als die räudigsten Ratten. Das waren all die Lichtscheuen, die in dem Krieg ihren Gewinn sahen, die durch ihn Geld machten – oder die Situation zu ihrem eigenen Besten ausnutzten. Mörder und Leichenfledderer und Profiteure. Und eines der allergrößten Schweine war der, der im Volksmund unter dem Namen ›Giftratte‹ lief.«
»Wer war das?«
»›Giftratte‹, das war ein Schatten, ein Gespenst. Du kamst nie an ihn heran, und es gehört zu den Tragödien der Nachkriegszeit, daß nie jemals völlig geklärt wurde, wer ›Giftratte‹ eigentlich war.«
»Soll das heißen, daß …?«
»Wenn ich an ›Giftratte‹ denke, sehe ich eine Phantasiefigur vor mir, ungefähr so, wie vor dem Krieg die Schurken auf der Titelseite von Detektivmagasinet gezeichnet wurden: Hut bis über die Augen, Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und ein verdeckter Blick aus einem Gesicht mit fast dämonischen Zügen.«
Er schluckte und fuhr fort: »Es gibt niemanden, der ganz sicher weiß, wann er seine Tätigkeit begann, aber das erste Mal, das ich etwas fand, was eine Spur von ihm hätte sein können, war in Verbindung mit ein paar schweren Denunziationsfallen, ungefähr im Herbst 1942.
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