Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
keine Zeit.«
Sie machte eine Bewegung zum Handgelenk und der Armbanduhr.
Ich sah zur Tür hin. Wäre man entschlossen genug, würde es zehn Sekunden dauern, sie zu öffnen. »Sie haben es mit der Klingel versucht?«
»Natürlich. Und ich habe geklopft. Ich war auch eine Etage tiefer, aber da war niemand zuhause.« Sie sah mich hilflos an. »Wenn Sie doch bloß ein Verwandter wären, dann …«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was dann? Hier gibt es nur eins zu tun. Wir brechen ein.«
Sie riß die Augen auf. »Aber – Vielleicht kann ein Hausmeister …«
Ich schob sie behutsam zur Seite und ging einen Schritt auf die Tür zu. Ich warf einen Blick auf das Schloß, dann hob ich das rechte Bein und trat flach gegen die Tür, direkt neben dem Schlüsselloch. Es knirschte im Rahmen und Putz rieselte von der Decke. Die Haushaltshilfe sah bekümmert nach oben und hielt sich am Treppengeländer fest. Die Tür ging nicht auf.
Ich trat noch einmal zu. Dieses Mal rieselte deutlich mehr Putz von der Decke. Er bedeckte uns beide wie grauweißer Puder und nun war es an mir, nach oben zu sehen. Wenn ich so weitermachte, stünden wir bald unter freiem Himmel. Die Tür war nach wie vor zu.
»Also gut«, sagte ich und machte kurzen Prozeß.
Ein erneuter Tritt zerschlug die Scheibe neben dem Schloß. Mit der Schuhspitze stieß ich die spitzesten Glasstücke los, streckte die Hand hindurch, griff um den Türknauf und öffnete die Tür mit einem kleinen Schnappen des Schlosses. Ich trat zur Seite und deutete der Haushaltshilfe an, vielleicht als erste hineinzugehen, da sie doch die Bürokratie auf ihrer Seite hatte. Sie starrte ängstlich auf die Türöffnung und winkte mich vor sich.
Ich ging hinein und hörte ihre hastigen Schritte direkt hinter mir. Sie wollte zwar nicht vorgehen, aber auch auf keinen Fall etwas verpassen.
Die Wohnung war vollkommen still, der Flur stumm und finster. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es war leer. »Hjalmar«, sagte ich.
Niemand antwortete.
Die Haushaltshilfe atmete schwer hinter mir. »Ist er …«
Ich durchquerte das Wohnzimmer, ging auf die hellgrüne Tür zu, klopfte an und öffnete sie, ehe jemand antworten konnte.
Es ist schon merkwürdig. Wenn man solche Türen öffnet, weiß man fast immer schon, was man vorfinden wird. Im selben Augenblick, in dem man sie öffnet, weiß man es. Als hätte der Tod seine ganz eigene, starke Ausstrahlung.
Hjalmar Nymark lag im Bett. Die Bettdecke war halb zur Seite geworfen. Das Kopfkissen lag auf dem Boden. Der eine Arm hing schlaff vom Bett herunter, ohne ganz zum Boden zu reichen. Die neuen Krücken lehnten am Nachttisch. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser. Das Glas war halb leer.
Das Gesicht verriet nichts. Es war fremd und anders, wie eine zum Teil geschmolzene Wachsmaske. Ein süßlicher, widerlich fader Geruch hing im Raum und es war unmöglich, die Staubschicht auf den Möbeln zu übersehen. Hjalmar Nymark starb in einer Umgebung, die zum Stil des Lebens paßte, das er geführt hatte, umgeben von Leere, allein mit sich selbst.
Ich wandte mich ab und begegnete dem Gesicht der Haushaltshilfe hinter mir. Sie sah nicht mehr ängstlich aus. Plötzlich hatte sie etwas Nüchternes und Realistisches an sich, das fast tröstlich war. Ich trat von der Tür weg ins Wohnzimmer. In den dunklen Raum hinein sagte ich:
»Ich werde wohl jemanden anrufen müssen.«
13
Ich blieb mit dem Rücken zur hellgrünen Tür stehen. Auf der Anrichte direkt vor mir standen die Bilder von Hjalmar Nymarks Eltern. Es waren hellbraune Fotografien aus der Zeit um die Jahrhundertwende und mir kam plötzlich der Gedanke, daß Hjalmar Nymark drei Generationen in sich getragen hatte und seine Eltern der vierten angehörten. Sie waren wahrscheinlich irgendwann in den 1870ern geboren, ungefähr zur Zeit des deutsch-französischen Krieges, der Pariser Kommune und des Durchbruchs des Parlamentarismus. Als der erste Weltkrieg ausbrach, waren sie älter, als ich es jetzt war. Bergen war eine autofreie Stadt, auf Fløyen sprossen die Baumsetzlinge und wenn du aufs Land wolltest, fuhrst du einfach auf die andere Seite des Store Lungegårdsvann, mit dem Boot.
Ich sah mir Hjalmar Nymarks Vater an. Von ihm hatte er die Gesichtsform: vierkantig und massiv, mit einer kräftigen Kinnpartie. Das Haar war lockig und stand gerade von der breiten Stirn ab. Der Gesichtsausdruck war feierlich, wie bei allen Menschen, die sich zu jener Zeit fotografieren ließen.
Die Mutter wirkte zarter. Das Gesicht
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