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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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aber er war durchaus beweglich.«
»Durchaus beweglich? Aber der Mann wohnt im dritten Stock, in einem Altbau, ohne Fahrstuhl. Wie, glauben Sie …«
»Tut mir leid, Veem …«
»Veum.«
»Das ist selbstverständlich bedauerlich, aber mit der Kapazität hier oben ist es jetzt zur Ferienzeit katastrophal bestellt. Wir schicken die Leute direkt aus dem Operationssaal mit dem Taxi nach Hause, wenn es irgendwie zu verantworten ist.« Ich hörte sie in irgendwelchen Papieren blättern. »Und außerdem kann ich Sie beruhigen, wir haben das Sozialamt benachrichtigt, und man hat ihm eine Haushaltshilfe vermittelt, für täglich, also … Es gibt Leute, die schlechter dastehen als er. Sind Sie vielleicht ein Verwandter, dann können Sie doch …«
»Ich werde ihn besuchen, ja. Und zwar sofort.«
»Also, war sonst noch etwas, Veem?«
»Nein, das …«
»Dann auf Wiedersehen.«
»Wiederhörn.«
Ich legte vorsichtig den Hörer auf, damit sie nicht zurückrief und mich ausschimpfte. Dann machte ich mich auf den Weg.
Der schmale, graue Altbau, in dem Hjalmar Nymark wohnte, sah nicht sonderlich einladend aus. Ich stapfte die dunkle Treppe hinauf. Für einen siebzigjährigen Mann, der auf Krücken ging, konnte es nicht leicht sein, hier heraufzukommen. Wenn es einmal brannte, war er nicht viel mehr wert als eine dreißig Jahre alte Ermittlungsakte im Polizeiarchiv.
Im zweiten Stock war die Glühbirne durchgebrannt. Als ich mich zum dritten Stock hinauftastete, bemerkte ich, daß dort jemand war. Ich blieb stehen, das eine Bein eine Treppenstufe über dem anderen. Die Augen, die meinen begegneten, waren aggressiv und bekümmert zugleich.
Dort oben stand eine Frau. Sie war um die vierzig Jahre alt, eine dieser breitgewachsenen, fast viereckigen Frauen, die sich mit breiter Hüftpartie, kurzem Pony und einer kaum merkbaren Andeutung von Unterbiß durch das Dasein schieben. Sie erinnerte schwach an einen orientalischen Freistilringer, aber es war nichts Untertäniges an der Miene, mit der sie mich empfing. Die Stimme war kraftvoll, der Dialekt bergensisch.
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte zu Hjalmar Nymark«, antwortete ich und stieg vorsichtig höher.
»Sind Sie ein Verwandter?« kläffte sie. »Wenn sie glauben, ich fände’s sonderlich lustig … Mir wurde gesagt, die Tür stünde offen, sodaß ich einfach hineingehen könnte. Der Patient soll bettlägerig sein oder jedenfalls äußerst schlecht auf den Beinen.«
Ich war jetzt oben bei ihr angekommen. Aus der Nähe wirkte sie etwas weniger imponierend, weil sie zehn bis fünfzehn Zentimeter kleiner war als ich. Die Lippen waren stramm und schmal, die Augen scharf, und sie duftete schwach nach Eukalyptus-Bonbons. Sie trug einen graubraunen, knielangen Mantel, doppelt geknöpft und mit breiten Aufschlägen an den Taschen. Die portweinrote Handtasche hatte lange Riemen, was sie zu einer ausgezeichneten Handwaffe machte. Also hielt ich ein Auge auf sie.
Ich fragte vorsichtig: »Sind Sie die Haushaltshilfe?«
»Ja, und ich hab nicht ewig Zeit. Ich habe noch zwei Patienten und einer davon ist eine Frau von neunzig, die ist blind und teilweise behindert und braucht wirklich jeden lag Hilfe beim Essenmachen. Und auf dem Amt haben sie gesagt …«
»Was ist ihr Auftrag?«
»Dieser Hjalmar Nymark – er ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, und sie haben mir gesagt, auf dem Amt …« Sie musterte mich mißtrauisch. »Daß er überhaupt keine Angehörigen hätte und deshalb sollte ich ihn täglich besuchen – außer an den Wochenenden natürlich. Dann haben wir nämlich frei.«
»Und was passiert an den Wochenenden?«
»Gar nichts. Wenn sie keine Familie haben, oder sonst jemanden.«
»Und die alte, blinde Dame?«
»Nee, also, da kommt die Tochter.«
»Ach so, da kommt die Tochter.«
»Ja, die wohnt nämlich auf Stord.«
»Und Pflegeheimplätze, sowas gibt’s nicht?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Dann glitt ihr Blick zur Seite, in Richtung Tür. Sie war braun gestrichen, und hinter den schmalen Scheiben sahen wir einen Schimmer der Beleuchtung aus Hjalmar Nymarks Flur. In der Mitte der Tür war eine dieser altmodischen Klingeln, wie es sie in einigen Gegenden Bergens immer noch gibt. Man dreht einen Handgriff herum und auf der Innenseite klingelt es: ein kratzender, heiserer Laut.
Die Haushaltshilfe sagte: »Der Mann da drinnen kann kaum gehen. Deshalb sollten die Leute vom Krankenhaus die Tür offen stehen lassen. Ich sollte einfach reingehen. Aber sie ist zu. Und ich hab

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