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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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meine Besuche vermissen würde, aber er sah fast erleichtert aus, als ich es sagte. Vielleicht brachte meine Anwesenheit nur eine Erinnerung an Dinge zurück, die er am liebsten vergessen wollte. Vielleicht würde es ihm besser gehen, wenn ich mich eine Weile fernhielt. Jedenfalls packte ich den Aquavit, die Angelsachen und das Joggingzeug ein, um mich für eine Zeit am äußersten Rand des Landes niederzulassen, wo das Meer wutschäumend über die wolfsgrauen kahlen Felsen hereinbrach.
    Die Hütte lag auf der Spitze einer steilen Felskuppe. Eine steile Kluft führte zu einem alten Bootshaus und einem Anleger, und draußen vor der kleinen Bucht lagen ein paar verwehte Inselchen als letzte Barriere vor dem Meer.
    Weit, weit draußen wurde das Meer zu Himmel, aber das sahst du nicht immer. An diesen grauen Sommertagen mit flachem Regen in der Luft und einer Sonne, die nie mehr war als eine Ahnung irgendwo hinter den Wolken, schienen Himmel und Meer miteinander zu verschmelzen und eins zu werden. Es war, als seist du in ein großes, graues Leinentuch gepackt, dessen Enden jemand sorgfältig unter den Fetzen Land geschoben hatte, auf dem du dich befandst. Die Tage zogen in beruhigender Symmetrie vorbei. Ich stand auf, wann es mir paßte, verbrachte ein paar Stunden mit Frühstück und Kaffee, zog zum nächsten Landhandel und kaufte ein, ruderte das kleine Boot des entfernten Verwandten zu den nächsten Inseln hinaus, setzte mich an einen günstigen Angelplatz, warf den Haken aus und zog – mal mehr, mal weniger – mein Mittagessen an Land.
    Jeden Abend lief ich, und die Strecken wurden länger und länger. Gleichzeitig nahm mein Alkoholbedarf ab. Als die Aquavitflasche leer war, ergab es sich einfach nicht, daß ich den weiten Weg in die Stadt fuhr, um mir eine neue zu kaufen, und der Kasten Bier, den ich gekauft hatte, reichte die ganzen vier Wochen. Hier draußen war es nämlich so, daß man das Bier kastenweise kaufen mußte. So erreichen sie, oder glauben es jedenfalls, daß die Leute weniger trinken. In der letzten Woche trank ich nur noch Milch, Kaffee, Tee und Wasser. Langsam fühlte ich die Kraft in meinen Körper zurückkehren. Es war ein langes und aufreibendes Jahr gewesen, mit regelmäßigen Reisen hinab auf den Grund meiner Büroflaschen.
    Ich verbrachte die Ferien allein. Thomas hatte in die USA reisen dürfen, zusammen mit Beate und ihrem neuen Mann, der ein Stipendium bekommen hatte, das einen zweimonatigen Aufenthalt dort drüben deckte. Ich nannte ihn immer noch ›Beates neuen Mann‹, obwohl er mittlerweile länger mit ihr verheiratet war als ich. Ich bekam im Laufe der Ferien zwei Postkarten von Thomas. Die eine war aus Disneyland, wo er schrieb, daß er noch nie vorher so viel Spaß gehabt hätte. Die andere war ein authentisches Foto der Leichen von Tim Evans, Bob Dalton, Grat Dalton und Texas Jack nach der legendären Schießerei in Coffeyville, Kansas am 5. Oktober 1892, und auf der Rückseite der Karte konnte ich lesen, daß mein Sohn diese Reise nicht vergessen würde, so lange er lebte.
    Der entfernte Verwandte schickte mir eine Karte aus den sonnigen Gefilden, um mir zu erzählen, daß der Schnaps billiger, die Frauen williger seien und die Sonne den ganzen Tag schiene. Sonst hörte ich von niemandem.
    Abends saß ich an dem großen Stubenfenster, ein Glas Bier oder einen kleinen Aquavit in der Hand (so lange noch welcher da war), und las Bücher, die so dick waren, daß man wirklich Sommerferien haben mußte, um durchzukommen. Oder ich saß nur einfach da und starrte ins Weite, an den kleinen Inseln vorbei und auf das scheinbar endlose Meer dort draußen, so wie Menschen immer zum Horizont starren, als gäbe es dort eine heimliche Öffnung zu einer neuen und besseren Welt. Ab und zu kreuzte ein großes Schiff ein Stück des Meeres dort draußen und unten im Süden sandte ein Leuchtfeuer seine regelmäßigen Botschaften in die Umgebung: blink – blink, blink – blink …
    In der Nachbarhütte wohnte eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Der Vater war groß und schlaksig und trug eine Brille. Die Mutter war eine von dieser grazilen, durchsichtigen Blondinen, die fast unsichtbar werden, wenn sie nur im Bikini daherkommen. Abends konnte ich sie sehen, im Licht ihrer Petroleumlampe. Wenn die Kinder im Bett waren, saßen sie eng beieinander und blickten auf dasselbe Meer hinaus, während sie plauderten. Sie sahen wundersam zufrieden aus. Am Tage kamen sie in farbensprühendem Regenzeug

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