Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Vernünftiges zu tun, nachdem ich die Polizeiwache verlassen hatte. Ich hatte in der Cafeteria im ersten Mittag gegessen und im Büro im dritten die Abendzeitungen durchgelesen. Nun saß ich bei schräggestelltem Fenster und hörte die Geräusche des ausklingenden Alltags zu mir hereinsickern. Noch nicht alle hatten Feierabend gemacht. Für manche begann ein neuer Arbeitstag. Unten auf dem Markt war der Prediger dabei, sich in Position zu bringen.
Er hatte da gestanden, solange ich denken konnte, mit demselben mageren Gesicht, derselben zerzausten Frisur, demselben begeisterten Tonfall, wenn er von Jesus sprach. Er war wie eine Figur aus der gutgläubigen Landschaft der Kindheit, wo alles einfach und schwarz-weiß war, Gott ein Mann mit weißem Bart zwischen rosa Wolken und der Tod etwas Fernes, Unbegreifliches, das uns eigentlich nicht anging. Etwas, das Banditen und Indianern widerfuhr, im abenteuerlichen Amerika. Etwas, das den Großeltern widerfuhr, wenn sie alt genug waren.
Der Prediger war wohl in den Fünfzigern und wenn ich nachrechnete, konnte er kaum dort gestanden haben, als ich Junge war. Trotzdem schien er immer dagewesen zu sein. Prediger kamen und gingen; Heilsarmeeoffiziere und scheinheilige Schweden mit Elvis-Frisur hatten Jugendsünden bekannt; junge, blonde Mädchen mit knielangen Faltenröcken hatten zweistimmig gesungen von Seligkeit und Glück. Aber die waren jetzt verschwunden. Nur der Prediger war noch da. In einer ungläubigen Zeit war er der letzte Mohikaner. Er lächelte – aber war da nicht trotzdem ein Zug von Bitterkeit um den Mund? Die Begeisterung – konnte die den Anflug von Enttäuschung überdecken, wenn er ständig von betrunkenen Jugendlichen und alten Säufern gestört wurde?
Er hatte jetzt die Lautsprecher zurechtgerückt, das elektrische Akkordeon eingestöpselt und spielte versuchsweise ein paar Töne, ehe er anstimmte:
Er hat das Perlentor geöffnet, sodaß hinein ich kommen kann!
Nein, keine Bitterkeit, keine Enttäuschung, sondern der selbe, freudetrunkene Tonfall wie immer, gesungen mit einer Inbrunst, um die ich ihn immer beneiden würde, die ich nie ganz würde fassen können.
Er sang weiter, und ich hörte ihn im Hintergrund, während die Gedanken weiterschweiften.
Ich sah Hjalmar Nymark vor mir, zum Perlentor hinaufschlendernd, in seinem alten Anzug, die Zeitung zusammengerollt in der Faust, das Haar leicht zerzaust und der Anzug leicht verknittert, nach einer allzu hastigen Abreise. Ich sah das Perlentor vor mir, wie es sich dem kindlichem Naivismus immer darstellte, wenn ich dieses Lied hörte, auf einem Fundament aus weißen Wolken errichtet, glitzernd von Perlenglanz, fast blendend im starken, klaren Sonnenlicht. Hjalmar Nymark klopfte an, und es wurde geöffnet. Ich sah ihn dastehen und warten, leise pfeifend, während er sich umsah, ungefähr wie ein Losverkäufer, der an der Tür steht, während jemand hineinläuft, um Geld zu holen. Sie waren hineingegangen, um die Kartothek durchzuchecken, wenn sie nicht auch dort schon zu EDV übergegangen waren. Dann ging das Tor wieder auf und Hjalmar Nymark konnte hereinkommen.
Er hat das Perlentor geöffnet, sodaß hinein ich kommen kann!
Ich ging ans Fenster und sah hinunter. Jetzt stand er da und redete. Niemand blieb stehen, um ihm zuzuhören. Einige gingen hastig vorbei, ohne nach rechts oder links zu sehen. Ein paar junge Mädchen kamen vorbei, gekrümmt vor unterdrücktem Gelächter. Am Strandkai direkt unter mir blieben ein paar japanische Touristen stehen, und es dauerte nicht lange, bis die Fotoapparate im Einsatz waren. Folklore auf den Film gebannt. Der letzte Mohikaner, lebend angetroffen, auf dem Marktplatz in Bergen.
In solchen Augenblicken fühlte ich mich ihm verwandt. Er dort unten, allein, in begeisterter Rede über Jesus. Ich hier oben, als sein einziger wirklicher Zuhörer. Und er wußte nichts von mir.
Als er fertig war, packte er seine Sachen zusammen, unterhielt sich ein wenig mit ein paar Pennern, die vorbeikamen, belud seinen Wagen und fuhr nach Hause. Ich blieb zurück, allein an meinem Schreibtisch, während die Dunkelheit langsam die Stadt erfüllte, das Büro und mich – bis wir ein Dunkel waren, ein Stoff, ein Gedanke …
Ich mußte gedöst haben. Als ich die Augen wieder öffnete, blinkten mir grüne und rote Neonlichter entgegen, wie kalte Verzierungen im Dunkel.
Ich zog mir langsam den Mantel an, schloß das Büro ab und fuhr nach Hause. Es war nichts anderes zu tun.
17
Und
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