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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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dann, als die meisten Menschen ihren Job wieder begonnen hatten und die Schule wieder anfangen sollte, war plötzlich der Sommer da, mit voller Kraft aufflammend, wie eine Altersverliebtheit. Die Hitzewellen überfluteten die Stadt wirklich wie Wellen, denn von Zeit zu Zeit zogen sie sich zurück, wie um Kräfte zu sammeln, und dann waren kalte Wellentäler in der Luft aus dem Sommer, den wir hinter uns gebracht und vom Herbst, den wir noch vor uns hatten.
    Jacob E. Hamre rief schon am nächsten Tag an. »Um dir zuvorzukommen«, sagte er.
»Soso«, sagte ich.
»Wir haben den Obduktionsbericht bekommen«, sagte er.
»Und der besagt?«
Er hielt einen Augenblick inne. Dann sagte er: »Herzversagen.«
»Was?«
»Die Todesursache war Herzversagen. Ganz einfach und keinesfalls unnatürlich – für einen Mann in seinem Alter. Und nach den Anstrengungen, denen er in letzter Zeit ausgesetzt war. Der Arzt sagte, daß es sogar eine verspätete Reaktion auf den Unfall gewesen sein könnte. Der Körper war schon geschwächt. In gewisser Weise …«
»Ja?«
»In gewisser Weise war es fast barmherzig. Ein Mann wie Hjalmar Nymark hätte nicht so leben können, wie er es mit diesen Verletzungen gemußt hätte. Es war nur gut, daß es so schnell ging.«
»So kann man es natürlich auch sehen.«
»Ja.«
»Und die weiteren Ermittlungen?«
Er sagte schnell: »Die laufen.« Dann kam ein wenig langsamer: »Aber wir haben keine Fortschritte gemacht. Es gibt vorläufig nichts, das auf etwas Kriminelles hindeutet.«
»Aber der hinkende Mann?«
»Da ist nur die Haushaltshilfe, die ihn gesehen hat, und als wir noch einmal mit ihr sprachen, war sie sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich hinkte, oder ob es vielleicht nur so gewirkt haben konnte.«
Ich war irritiert. »Nur so gewirkt? – Und was ist mit der Pappschachtel, habt ihr die gefunden?«
Sein Tonfall war müde: »Nein, Veum. Das haben wir nicht.«
»Dann setzt ihr also die Ermittlungen fort?«
»Ja. Ich dachte nur, es würde dich interessieren, zu …«
»Das tut es auch, Hamre. Danke für den Anruf. Sie haben es sicher vermerkt auf der anderen Seite des Perlentors, in dem grauen Archivschrank, auf der Karte mit deinem Namen drauf. Einen schönen Tag noch, Hamre.«
»Gleichfalls, Veum.«
Ich legte auf.
    Eine Woche später stand die Todesanzeige in der Zeitung. Sie war so einfach, wie sie nur sein konnte:
    Unser alter Freund Hjalmar Nymark
starb plötzlich, 70 Jahre alt. Freunde und Kollegen. Er sollte am Tag darauf beigesetzt werden. Ich riß die Annonce aus der Zeitung und legte sie mitten auf den Schreibtisch, zusammen mit überwältigenden Mengen von Papieren und Dokumenten zu all den anderen Fällen, die ich bearbeitete. Sie
    lag mit anderen Worten allein.
    An dem Tag, an dem Hjalmar Nymark beigesetzt werden sollte, war der Sommer wieder vorbei. Der Himmel hatte sein graues Hemd angezogen, und es lag ein trauriger Zug von Spätsommer in der Luft. Das paßte zur Situation.
    Die Schotterwege zwischen den Gräbern auf Møhlendal knirschten unter meinen Füßen. Alte Grabsteine standen herum und lehnten sich hintenüber, wie ältere Menschen, wenn es im Kreuz schmerzt. Die Buchstaben, die hineingemeißelt waren, sandten ihre knappe Botschaft ins Universum hinauf – ein Name und zwei Jahreszahlen: ein Lebenslauf in Fakten eingefangen. Alles und Nichts: eine Handvoll Buchstaben und acht Ziffern. Alle Erniedrigungen und alle Freuden. Alle Trauer und alles Lachen. Liebe und Enttäuschungen. Zärtlichkeit und Einsamkeit. Das steht dort nicht. Das ist da einfach, irgendwo hinter den Namen und Jahreszahlen, in der Erde unter den krängenden Steinen, den zerzausten Blumen und den überwucherten Fliesengängen.
    Hinten an der Kapelle wartete eine Handvoll Menschen. Der Kripochef war da, aber wir waren einander nie vorgestellt worden. Er war ein bürokratisch aussehender Mann mit starker Brille. Vadheim war da, mit noch traurigeren Blick als gewöhnlich. Mehrere ältere Polizisten schlossen sich uns an, die meisten von ihnen Rentner. Jacob E. Hamre kam im letzten Augenblick angehastet, den Mantel flatternd hinter sich und das Haar zerzaust von den heftigen Windstößen. Drinnen in der Kapelle wartete Hjalmar Nymark in einem weißen Sarg. Zur gegebenen Zeit gingen wir hinein: ich zählte elf Männer, nicht eine einzige Frau und – abgesehen von Hamre und mir – nicht einen Menschen unter fünfzig. Hjalmar Nymarks Todesanzeige hatte von einem Leben in Einsamkeit gezeugt. Keine Familie, keine

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