Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Regal zu Regal, die Gespenster zeitloser Benutzer gehen, ohne ein einziges Buch herauszunehmen, ohne ein einziges Wort zu lesen.
Drinnen in der Bibliothek war kein Durchzug. Dort ruhte eine ewige Dämmerung, als seien die vielen Jahre, die sich in den Büchern verbargen, herausgesickert und hätten den Raum mit dem Nebel der Zeiten, dem Halblicht der Geschichte gefüllt.
Ich fragte, ob es möglich sei, Bergens Tidende vom April – Mai 1953 einzusehen und eine liebenswürdige, kleine, dunkelhaarige Frau mit großer Brille und grüner Cordhose ging nach unten ins Archiv und kam mit einer eingebundenen Ausgabe vom zweiten Quartal des Jahres zurück. Wäre ich in die Universitätsbibliothek gegangen, hätte ich das ganze auf Mikrofilm bekommen können, aber das machte mich immer verwirrt. Die Atmosphäre geht dir verloren, wenn du dich auf einem kleinen Bildschirm durch die Seiten arbeitest. Du verlierst den Kontakt mit dem Papier, vermißt den Duft, der noch an vergilbten Zeitungsseiten hängt, von Druckerschwärze, die vor langer Zeit einmal frisch war, und die Typen, von Typografen gesetzt, die jetzt wegrationalisiert waren, Bilder von Fotografen, die jetzt Rentner waren und Reportagen von Journalisten, die längst ihren letzten Bleistift gespitzt hatten.
Ich fand bald die Artikel über den Brand bei Pfau und erkannte mehrere der Reportagen aus Hjalmar Nymarks Ausschnittsammlung wieder. Ich notierte Namen, die ich finden konnte, blätterte weiter durch die Woche nach den ersten, dramatischen Tagen, zwei Tage nach dem Unglück erschien eine vollständige Liste der Umgekommenen. Ich notierte die Namen.
Dann blätterte ich weiter zu den Todesanzeigen. Ich notierte die Namen der Verwandten, die ich dort finden konnte. Lange betrachtete ich eine der Anzeigen, die von Holger Karlsen. Dem Mann, der die moralische Verantwortung für das Unglück zugeschoben bekommen hatte, dem Vorarbeiter, der nicht beachtet hatte, daß etwas nicht stimmte.
Mein geliebter Mann, mein herzensguter Vater, unser lieber Sohn Holger Karlsen,
wurde plötzlich
im Alter von 35 Jahren aus unserer Mitte gerissen. Sigrid
Anita
Johan – Else
und Angehörige
Sigrid – 1953 mit dem Nachnamen Karlsen – ob sie jetzt noch aufzufinden war? War sie noch am Leben, und wenn ja, würde sie dann mit mir sprechen wollen?
Zum Schluß überflog ich meine Liste. Die Namen, die ich am interessantesten fand, hatte ich unterstrichen. Es waren ungefähr dieselben wie damals im Juni, als ich eine entsprechende Liste angefertigt hatte. Elise Blom – weil sie bei Pfau gearbeitet und später mit Harald Wulff zusammengelebt hatte. Olai Osvold (den sie ›Brandstelle‹ nannten), der das Unglück überlebt hatte. Sigrid Karlsen, die mir vielleicht etwas erzählen konnte, wovon ich noch nichts wußte. Und dann Konrad Fanebust – weil er nach dem Unglück die Untersuchungskommission geleitet hatte und den Informationen, die ich von Hjalmar Nymark erhalten hatte, vielleicht etwas hinzufügen konnte.
Zum Schluß fügte ich noch einen Namen in die Liste ein: Hagbart Helle(bust). Neben seinen Namen schrieb ich ein Datum: 1. September. Das war der eine Tag im Jahr, an dem er Norwegen besuchte, und diesen Tag hatte ich schon reserviert.
Nun hatte ich eine Skizze, den Ansatz eines Plans. Aber ich brauchte bessere Hintergrundinformationen und glaubte zu wissen, wo ich sie bekommen konnte.
Von der Garderobe aus rief ich die Zeitung an und fragte, ob Ove Haugland im Hause sei. Das war er und wir machten ab, daß ich kurz heraufkommen sollte.
19
Ein Verlagshaus ist wie ein Bienenstock. Jede winzige Journalistenkabine ist eine Wabe, in der die Arbeitsbiene ihren SchwarzWeiß-Honig produziert, zur Freude braver Feierabendbürger, die gefräßig von Seite zu Seite hasten, auf der Jagd nach einem Skandal – oder vielleicht einer Neuigkeit.
Ich fand Ove Haugland in seiner Kabine, im vierten, eine Etage über der Chefredaktion. Es muß ein Prinzip geben bei der Konstruktion dieser schmalen, kleinen Büros, die nur an einen Ort zu führen scheinen: zur Schreibmaschine. Der Raum selbst erzwingt Konzentration und wird sofort zu klein, wenn ein Mensch hereinkommt, um interviewt zu werden. Wenn die ,Frauenfront’ mit vier Gesandtinnen ankommt, um sich über die neuesten männlich-chauvinistischen Entgleisungen des Blattes zu beschweren, wird er übervölkert und alles mögliche kann geschehen.
Als ich Ove Haugland das letzte Mal gesehen hatte, hatte er mich an Montgomery Clift nach
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