Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
dem Autounfall erinnert. Das tat er immer noch, aber er war im Gesicht merklich magerer geworden, ein schwacher Anstrich von Silber war in dem dunklen Haar und jetzt – über der Schreibmaschine – trug er eine Lesebrille mit dicken Gläsern: Montgomery Clift in der Filmversion von ›Miss Lonelyhearts‹.
Er saß krumm über die Maschine gebeugt, starrte auf den letzten Satz, den er geschrieben hatte und blätterte zerstreut in einem dicken Katalog, der ein Steuerregister hätte sein können.
Ich streckte den Arm durch die offene Tür und klopfte an der Innenseite und er sah abrupt auf, über seine Brillengläser hinweg. Die Bartstoppeln waren dunkel, er trug eine dunkle Terylenhose und ein grauweißes, am Hals offenes Hemd. Über einem Stuhl hingen eine moosgrüne Strickjacke und ein brauner Schlips. An einem Haken hinter ihm hing ein blauer Mantel. Sein Fenster ging zum Hinterhof hinaus. In einem Fenster gegenüber stand ein dicklicher Mann und starrte in die Luft, während er etwas in ein Diktiergerät sprach. Es war, als spräche er mit uns durch ein Telefon, das nicht funktionierte.
Ove Haugland erhob sich unbeholfen und sagte: »Hallo!« Ich trat ein, und das Büro schrumpfte. Der Stuhl, auf den ich mich setzte, war leer, aber daneben auf dem Boden lag ein Stapel alter Zeitungen, also hatte er ihn wohl freigeräumt, bevor
ich kam. Auf einem kleinen Tisch in einer Ecke stand etwas, das wie ein Privatarchiv aussah, in einer schmutzigen Plastikkassette. Grüne und rote Karteikarten mit fast unlesbaren Stichworten ragten heraus und ich sah die abgerissenen Kanten alter Zeitungsausschnitte, Computerauszüge, Fotokopien und ähnlichem.
Im Regal über seinem Schreibtisch stand eine Reihe dicker Bücher: Geschäftskataloge, Schiffslisten, Steuerregister und solche Dinge, die jemand, der in wirtschaftlichen Angelegenheiten als der größte Experte der Zeitung galt, interessieren mußten. Vor ein paar Jahren hatte ich ihm ein paar Informationen gegeben zu einer Sache, die ihm eine Riesenschlagzeile hätte bringen können – wenn nicht sein Redakteur so lange gezögert hätte, sie in Druck zu geben, bis sie längst in den beiden anderen Zeitungen der Stadt und in der halben Oslo-Presse stand. Vielleicht war ihm das eine Lehre gewesen. Vielleicht hatte er deshalb graue Haare bekommen.
An seine Frau erinnerte ich mich auch. Ich hatte sie in der Stadt gesehen. Sie hatte solch lila, träumende Augen, in denen du irgendwie nie den Grund findest, und wenn wir uns begegneten war ich mir nie ganz sicher, ob sie mich wirklich erkannte.
Er hatte etwas Wehmütiges, oder vielleicht Bitteres an sich. Ich würde darauf achten, nicht nach seiner Frau zu fragen. Es war besser, kein Risiko einzugehen.
Ich sah mich um und sagte: »Gemütlich hast du es hier. Ein paar Quadratmeter dazu, und ich würde mich fast wie zuhause fühlen.«
Er lächelte schief. »Ich dachte, du hättest eine schöne Aussicht, Veum.«
»Mmh. Das ist aber auch alles.« Ich sah hinaus auf seine.
Der Mann mit dem Diktiergerät war jetzt weg.
»Ein bißchen ablenkender als deine vielleicht.«
Er blickte blind zum Fenster. »Es ist ewig her, daß ich sie überhaupt gesehen habe.«
Ich sagte: »Tja, um direkt zur Sache zu kommen. Das hier liegt vielleicht etwas vor deiner Zeit, aber …«
Er sah mich neugierig an. »Aha?«
»Aber, sag mal … Was weißt du über Hagbart Helle?«
Er ließ einen langen Pfiff los.
»Hagbart Helle … Was willst du mit ihm?« Er sah auf die Uhr.
»Halt ich dich auf?«
»Nein, nein. Ich sehe nur aufs Datum. Du weißt vom – 1. September?«
»Ja, ich weiß davon. Aber wir haben doch erst den … Ja.«
Er nickte und sah leicht enttäuscht aus.
»Das wußtest du also. An einem Tag im Jahr, und zwar jedes Jahr, kommt er nach Hause. Weil sein Bruder, der eine Trikotagenfabrik leitet, an dem Tag seinen Geburtstag feiert. Mehrere Jahre lang hab ich versucht, an diesem Tag mit Hagbert Helle ein Interview zustande zu kriegen, aber es war unmöglich. Er lehnt es ab, sich zu äußern und versucht überhaupt, jegliches Aufsehen zu vermeiden. Fotografen zum Beispiel …«
Er drehte sich mit dem Stuhl herum und blätterte in seinem Archiv. Er suchte ein Pressefoto heraus und gab es mir. Es war körnig und undeutlich und wirkte wie mit Teleobjektiv oder unscharfer Einstellung aufgenommen. Auf dem Rücksitz eines großen schwarzen Wagens saß ein Mann mit einem mageren, krummnasigen Gesicht und fast weißem Haar, leicht vornübergebeugt, als
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