Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Vom Nordnes der Kindheit ging ich Galgenbakken hinunter bis zum Strandhage und der Skottegate, und auf einmal war ich bei einem der neuesten Bilder der Ausstellung: dem Haus, in dem ich Hjalmar Nymark tot gefunden hatte. Aber in dieser Nacht blieb ich nicht stehen.
Ich wanderte weiter, Nøstet entlang, in Richtung Møhlenpris und über den krummen, weißen Rücken der Puddefjordbrücke. Drüben in Gyldenpris hatte ich in sehr jungen Jahren ein Mädchen gekannt, mit blauer Poesie im Blick, aber so viel Blues im Herzen, daß sie in einer psychiatrischen Klinik endete, wo sie sie fanden, nachdem sie sich auf der Toilette erhängt hatte.
Um Viken herum und über den Danmarksplass kam ich von Süden zum Zentrum zurück, über die alte Nygårdsbrücke und an dem Krankenhaus vorbei, dem sie den Namen Florida gegeben hatten, allerdings nicht, weil dort die Sonne öfter scheint als in anderen Teilen der Stadt. Vor der Bushaltestelle waren sich zwei Jugendliche in Lederjacken in die Haare geraten, angefeuert durch eine wilde Clique von Fans. Ein Polizeiwagen fuhr an die Bordsteinkante und zwei Beamte sprangen heraus, wie wachsame Fledermäuse in ihren schwarzen Uniformen.
Ich ging weiter, durch Marken, die Øvregate entlang und weiter in Richtung Sandviken. Vor der Kellerwohnung RiesenOlsens stoppte ich einen Augenblick, aber alles war dunkel und still, und keine Bachusstimmen riefen mich hinein.
Ich ging zum Flygehavn hinunter und blieb wieder stehen. Das Universum stand auf dem Kopf. Die Sterne lagen glitzernd im Wasser und über der Stadt wölbte sich die schwarze See. Der Skoltegrunnskai lag wie eine grauweiße Barriere zwischen Himmel und Erde, und draußen, an der Böschung zu den Ufersteinen, stand ich.
Ich atmete tief ein. Die Luft war kalt und roch nach Tang und Bilgenöl. Stunden waren vergangen, die Lichter um mich herum waren erloschen, alles war jetzt still.
Zurück, die Sjøgate entlang, konnte ich mitten auf der Fahrbahn gehen. Kein Auto fuhr vorbei, obwohl ich genau in der Schlange ging, die ein paar Morgenstunden später von Åsane her hier stehen würde. Es war fast unheimlich: als käme ich in die Stadt und plötzlich wären alle tot. Es war nicht der Atomkrieg, sondern eine plötzliche Pest. Und ich war der einzige Überlebende. Die Stadt gehörte mir, ganz allein.
Beim Skutevikstorg ging ich ein Stück in Richtung Nye Sandviksvei hinauf und stand einige Sekunden vor einem weißen Holzhaus. Alle Fenster waren dunkel. Sie schlief, zusammen mit den ihren.
Ich ging zurück und auf den Skoltegrunnskai hinaus. Wieder begegnete ich der See. Überall in dieser Stadt begegnest du der See. In dieser Nacht war sie wie ein kraftvolles Haikugedicht: Schwarz/ist die See/ im September. – Die Poller erhoben sich wie neugierige Seehundköpfe über die Kaimauer und lauschten dem lautlosen Gedicht. Das Frachtschiff, das am Festningskai angelegt hatte, hatte Rostflecken. Ich strich mir automatisch über das Gesicht. Die Bartstoppeln waren borstig geworden.
Jetzt war das Zentrum tot. Es war die stillste Stunde, zwischen fünf und sechs Uhr morgens. Sogar die spätesten Nachtwanderer hatten nach Hause gefunden, und für die, die um sieben Uhr zur Arbeit sollten, war es zu früh. Vor der Holberg-Statue stand ein einzelnes Taxi mit leuchtendem Schild auf dem Dach. Auf der Treppe vor der Fleischhalle saß noch einer, der überlebt hatte, ein Mann in schmutzig-grauem Mantel, das Gesicht zwischen den Knien verborgen. Andere Zeichen von Leben sah ich nicht.
So setzte ich meine ruhelose Wanderung fort. Beim Gehen durchdachte ich, was ich von den Gerüchten über ›Giftratte‹ während des Krieges, über den Brand bei Pfau, den Mord an Harald Wulff und Stauer-Johans Verschwinden 1971 und dann über die Geschehnisse der letzten Monate: Hjalmar Nymarks Unfall, daraufhin sein Tod und nun den ›Unglücksfall‹ Olga Sørensens wußte.
Bergen hatte sich in dieser Zeit verändert. 1953 war es eine um vieles kleinere Stadt als heute. Im Fyllingsdal, hinter einem Fjell, durch das noch keine Tunnel gebohrt waren, lagen die Felder breit und grün zwischen den verstreuten Höfen, und eine idyllische kleine Straße schlängelte sich durchs Tal. In der anderen Richtung, durch Åsane, war es eine Tagestour bis Salhus oder Steinsø, und die Leute fuhren nach Kjøkkelvik oder Flesland und nannten es mit gutem Gewissen ›aufs Land‹. Die Flugverbindungen nach Osten gingen noch über den Flughafen in Sandviken, und es fuhr ein Lokalzug nach
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