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Im eigenen Schatten

Im eigenen Schatten

Titel: Im eigenen Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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durch Istrien. Živa Ravno telefonierte die Fahrt über und versuchte, die Amtsgeschäfte im Griff zu behalten, soweit dies vom Wagen aus möglich war. Zwei private Gespräche führte sie zwischendurch. In Andeutungen informierte sie Laurenti über das Vorgehen. Das zweite Telefonat galt ihren Cousinen, die beide in dem Goldverarbeitungsbetrieb arbeiteten und höchst erfreut über die Nachricht waren, dass sie, wenn auch unerwartet, eintreffen sollte. Sie waren stolz auf Živa, die es im Gegensatz zu ihnen weit gebracht hatte.
    Nach siebzehn Uhr traf sie schließlich an der Goldschmiede ein und ließ sich in einem zum mobilen Kommissariat umgenutzten Wohnmobil vom Leiter der Einsatzkräfte über den Verlauf unterrichten. Der drahtige Typ von fünfunddreißig Jahren mit kantigem Gesicht und schwarzem Bürstenschnitt berichtete, dass er nicht auf das Eintreffen der Firmenanwälte gewartet, sondern eine sofortige Inventur angeordnet habe, die vermutlich die ganze Nacht dauern werde. Die beiden Geschäftsführer hatten den Beamten erst nach Haftandrohung den Zugang zu den gepanzerten Untergeschossen freigegeben. Goldbarren mit dem Stempel der Banca d’Italia seien zwar gefunden worden, doch bis die Bestände mit den Büchern abgeglichen seien, werde viel Zeit vergehen. Aurum war eines der großen Unternehmen im Land, dessen Wirtschaft außerhalb des Tourismussektors und der Montanindustrie nicht viel zu bieten hatte. Niemand konnte die Menge an Edelmetall schätzen, die sich derzeit in den Werkstätten und im Tresorraum befand. Dafür fehlte es an Erfahrung, man musste Spezialisten anfordern. Die Anfragen in Deutschland und Österreich liefen.
    Živa hatte nur kurz im Hotel in Rovinj eingecheckt, sich frischgemacht und war zum Hof ihrer Cousinen Dragica und Ivana gefahren, der seit Generationen der Familie gehörte. Die Schwester von Živas Großmutter hatte vom Küstenort Novigrad, das bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch Cittanova geheißen hatte, ins Landesinnere geheiratet. Während ihrer Kindheit hatte Živa die Sommer in Istrien verbracht und war seit damals eng mit den Cousinen verbunden.
    Ein wunderbarer, tiefvertrauter Duft hing in der großen Küche, wo der lange schwere Holztisch gedeckt war. Fusi con sugo di gallina – eine handgemachte, gedrehte Pasta mit der Soße und dem Fleisch von einem der freilaufenden Hühner wurde aufgetischt. Und danach ein Zicklein, das lange im Steinofen unter der Peka, einer gusseisernen Haube, gegart worden und von köstlichem Aroma war.
    Während des Essens unterhielten sie sich über die Familie und tauschten Kindheitserinnerungen aus, doch kaum hatten sie abgetragen und eine Flasche schwarzgebrannten Rakija auf den Tisch gestellt, konnten die Cousinen ihre Neugier nicht länger zähmen, und Živa war es ganz recht, von ihnen Details aus der Firma zu erfahren.
    »Du bist doch wegen der Durchsuchung hier?«, fragte Ivana, die im Lager der Aurum arbeitete. Aufgeregt berichtete sie, dass man sie heute vor der Zeit nach Hause geschickt hatte, kurz nachdem die Beamten angerückt waren. Selbst die penible Kontrolle, der sich täglich alle Mitarbeiter beim Verlassen des Betriebs zu unterziehen hatten, war oberflächlich verlaufen.
    »Diesmal hätte ich endlich etwas stehlen können«, sagte sie und goss die Gläser mit dem Obstbrand randvoll. »Schon allein als Entschädigung für den Lohn, der mir entgeht. Man weiß sowieso nie, wann man entlassen wird. Früher hat die Firma im Zweischichtbetrieb gearbeitet, doch seit der Wirtschaftskrise ist alles anders geworden.«
    »Bei uns hat man dagegen kaum etwas gemerkt«, erzählte die füllige Dragica, die in der Packerei arbeitete. »Aber alle haben über die Durchsuchung geredet.«
    »Wie wird eigentlich die fertige Ware verschickt?«, fragte Živa.
    »Die adressierten Kartons werden täglich von Wertkurieren abgeholt. Die Empfänger befinden sich in halb Europa.«
    »Und die Anlieferungen des Rohmaterials?«
    »Ganz unregelmäßig. Niemand weiß vorher davon. Gepanzerte Werttransporter kommen einfach irgendwann durch die Sicherheitsschleuse. Während die Paletten mit dem Gabelstapler entladen werden, wird der Hof gesperrt, aber durchs Fenster kann ich zuschauen.« Ivana war im Gegensatz zu ihrer Schwester mager, doch hatte sie kräftige Arme, die zupacken konnten. »Lange dauert es nicht, zwanzig Minuten höchstens. Das angelieferte Gold verschwindet mit dem Lastenaufzug im Depot im Untergeschoss. Und später wird von dort

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