Im Fadenkreuz der Angst
auf dem Beifahrersitz gesessen und ich habe durch das Fenster die Kühe angeguckt und überlegt, was die wohl denken, und ich habe das Fenster hochgekurbelt, damit der Staub von der Straße nicht reinfliegt. Dad hat seine Hand auf Moms Knie gelegt, und wenn wir wieder zurück beim Haus waren, haben sie gesagt, sie würden ein Nickerchen machen, und ich habe am Strand Steine gesammelt und tote Möwen untersucht. Nichts bleibt, wie es ist.« Er blickt zur Seite. »Hat Marty dir das mit meinen Eltern erzählt?«
»So ungefähr. Nicht so richtig.«
»Ich war echt fertig. Sonst hätte ich es ihm nicht gesagt. Er ist so ein Plappermaul.« Er zwingt sich zu einem Lächeln. »Dass du’s weißt, ist okay. Aber sag’s nicht weiter, ja?«
»Versprochen.«
Andy holt tief Luft. »Meine Eltern sind nicht verreist. Sie machen eine Paartherapie. Als ob das was bringen würde.« Er atmet aus. »Erst war ich sauer auf Mom, weil sie Dad hinterherspioniert hat. Warum musste sie denn die Liste der Anrufe auf seinem Handy checken? Oder einen Privatdetektiv anheuern? Wenn’s ein Problem gab, warum hat sie nicht drüber weggesehen? Warum konnten wir nicht einfach weiterleben wie bisher?«
»Andy.« Ich zögere. »Wenn das bedeutet, dass deine Eltern sich trennen, so was passiert doch andauernd. Du wirst es überstehen.«
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Das ist schlimmer. In der ersten Woche nach den Ferien habe ich gehört, wie Mom geheult hat. Da hatte sie gerade vom Arzt das Laborergebnis bekommen. Mein Vater – mein perfekter Vater – hat ihr eine Geschlechtskrankheit angehängt.« Andy stemmt die Hände in die Seite. »Er hat sich im Paradise Club in Buffalo angesteckt. Und wusste nicht mal mehr, von welcher Hure er’s hatte.« Andy fängt an zu schaukeln.
»Andy …« Ich möchte ihn in den Arm nehmen, weiß aber nicht wie.
»Keine Ahnung, was jetzt wird«, sagt er. »Wo ich hinsoll. Was jetzt kommt. Ich kenne meinen Vater gar nicht richtig. Wer ist er?«
Marty kämpft sich mit den drei Schlafsäcken und den Luftmatratzen zur Garage hoch. »Vielen Dank für eure Hilfe.« Ich hebe die Hand. Er sieht, was los ist, und legt alles auf den Boden. Wir sind ganz still.
Andy wischt sich mit dem Ärmel über die Augen. Er schiebt die Beine aus der Autotür, bleibt aber geduckt sitzen. »Jungs«, sagt er, »habt ihr was dagegen, wenn wir einfach nach Hause fahren?«
Ehe wir uns versehen, sind wir wieder im Hafen. Da wir in Kanada waren, müssten wir uns eigentlich beim Zoll melden. Aber es stimmt schon, was Andy sagt: »Wozu? Kein Mensch weiß, dass wir von zu Hause weg waren.«
Wir fahren durch die Landschaft. Keine Gespräche, nur Musik. Andy klopft aufs Lenkrad, als wäre er ein Schlagzeuger, und Marty spielt Luftgitarre. Ich liege auf der Rückbank und tue so, als würde ich schlafen. Tatsächlich aber denke ich über Andys Vater nach. Und über meinen.
Ich denke an Dad und seine Konferenzen. Was macht er dort am Abend, in den fremden Städten, weit weg von zu Hause? Ich denke an unser Wochenende in Toronto. Warum wollte er nicht, dass ich alleine ins Stadion gehe? Ich werde in ein paar Monaten sechzehn. Und warum wollte er nicht, dass Mom mitkommt? Was sollte der ganze Zirkus?
Ich erstarre: Ist Dad so wie Andys Vater? Betrügt er Mom? War Mom deshalb so wütend? Hat sie es erraten?
Ich stelle mir vor, wie Dad sich in eine Bar stiehlt, sich in eine dunkle Ecke setzt und den Ehering abstreift. Oder sich eine Frau aufs Zimmer bestellt. Oder seine Geliebte ist Teilnehmerin der Konferenz. Hat er sich schon früher mit ihr getroffen? Sind diese Konferenzennur Tarnungen für ihre Treffen? Hat sie einen Ehemann? Oder Kinder?
Halt. Das ist doch verrückt. Dad ist so was von bieder. Wenn der feuchte Träume hätte, würde er nie wieder schlafen gehen und sich die Augenlider an die Stirn heften. Für ihn war ja schon das Berühren von Mary Louise Prescotts BH »Unzucht«. Dann fällt mir ein Spruch von unserem Imam ein: »Sag mir, wogegen ein Mann kämpft, und ich sage dir, welche Sünde er begeht.«
11
Am frühen Nachmittag bin ich wieder zu Hause. Mom trifft fast der Schlag. Sie hatte geschlafen, hörte mich unten und dachte, es wäre ein Einbrecher. »Was ist passiert?«
»Andys Eltern mussten weg.« Ich zucke die Achseln. »Wir hätten alleine bleiben können, aber ich habe gesagt, ihr würdet das nicht wollen. Na, und da sind wir eben nach Hause gefahren.« Ich halte die Luft an. Es ist nicht vollkommen
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