Im Fadenkreuz der Angst
Hotels in Torontound die aller anderen Kontakte. Wenn meine Nummern dabei sind, sind die okay und ich kann mich beruhigen. Mehr oder weniger.
Ich werfe die Haustür zu, damit Mom denkt, ich bin weg, und schleiche rauf in Dads Zimmer. Wenn Mom mich an Dads Computer erwischt, was sage ich dann? O Gott, jetzt hör doch einfach auf damit. Dreh um und geh zu Andy. Ich will, aber die Schlange hat mich im Griff. Schon bin ich in Dads Zimmer, habe die Tür hinter mir geschlossen. Auf Zehenspitzen schleiche ich zu seinem Schreibtisch. Auf dem Boden liegt Teppich, trotzdem kommt mir jeder Schritt wie ein Erdbeben vor. Mein Herz schlägt so laut, dass ich schwören könnte, ich werde davon taub.
Ich gucke mir genau an, wie Dads Schreibtischstuhl steht, damit ich ihn nachher richtig zurückstellen kann. Links von seinem Computer steht ein kleines Foto von Dad und mir. Es ist unter Glas, in einem Metallrahmen. Ich bin vielleicht sechs und sitze auf seinem Schoß. Mein Kopf lehnt an seiner Wange. Ich lasse mich von seinem Bart kitzeln. Wir lachen. Das Bild könnte genauso gut aus einer anderen Galaxie stammen.
Ich drücke eine Taste. Der Bildschirm leuchtet auf.
Ich klicke auf
Dokumente
und öffne die Datei
Herbst/ Winter Konferenzen
. Da sind drei PDFs: Toronto 19.– 22. September, Dallas 10.–14. Dezember, Washington 2.–6. Februar.
Ich öffne das Toronto-PDF, checke den Inhalt und scrolle zu der Seite mit den Hotel-Angaben. Ganz oben: »Holiday Inn, 370 King Street West. Telefon: 416 - 599 - 4000.« Gut. Das ist eine der drei Nummern.Ich wette, er hat angerufen, damit er auf jeden Fall ein Nichtraucherzimmer bekommt.
Ich gehe zur Seite der Veranstalter und finde die zweite Nummer. Es ist die vom Vorsitzenden des Organisationskomitees.
Jetzt gibt es nur noch eine Nummer. Vielleicht ist sie von jemandem, der ein Seminar anbietet? Ich suche die Namen aus dem Programm raus und checke die Liste mit den dazugehörigen Nummern. Fehlanzeige.
Egal. Vielleicht hat Dad sich mit einem Kollegen verabredet? Ich gucke in seinen E-Kalender . Wirklich, er hat ein paar Treffen mit männlichen Kollegen, Professoren und Forschern. Bei jedem steht eine Handynummer. Keine davon stimmt mit der dritten überein.
Na und?, denke ich. Das hat nichts zu bedeuten. Und in dem Moment fällt mir auf, dass am Sonntagsprogramm was komisch ist. Ich vergleiche Dads E-Kalender mit dem offiziellen Programm. Da steht dasselbe. Um sechs Uhr abends Cocktails und Dinner im Restaurant des C. N. Towers. Dr. Augustus Brandt hält einen Vortrag.
Augustus Brandt. Auggie. Der Typ, den Dad angeblich am
Sonnabend
vertreten soll – heute – an dem Abend, an dem wir bei den Jays sein sollten. Aber Brandts Vortrag ist nicht heute Abend. Er ist am Sonntag.
Morgen!
Ich gucke auf Dads Plan für heute Abend: »Blue Jays« steht in seinem Kalender, »Der Abend ist frei« im offiziellen Programm. Ich kriege keine Luft.
Dad hat uns angelogen.
Warum?
12
Nach dem Schwimmen kommen Andy und Marty zum Essen zu mir. Mom mag beide, aber Marty hat sie besonders ins Herz geschlossen. Sie war als Kind auch pummelig und weiß, wie das ist, wenn man deswegen gehänselt wird.
Da Andy ohne Ende erzählt, kommt Mom gar nicht auf die Idee, nach den Ereignissen des Tages zu fragen. Es dauert nicht lange, da lacht sie so herzhaft über Andys Geschichten, dass ihr fast die Luft wegbleibt. Aber ich bekomme nichts davon mit. Mir ist, als steckte mein Kopf unter Wasser. Ich will auftauchen, aber diese dritte Telefonnummer zieht mich runter wie ein Sack Zement.
Das hat nichts zu bedeuten, sage ich mir, gar nichts. Als Dad aus Iran floh, hat Grandma ihn nach Kanada geschmuggelt. Er lebte als Teenager in Montreal, wo er Mom kennenlernte. In die USA kamen sie erst, als er ein Stipendium für die New York University bekam. Also will Dad vielleicht einfach nur einen Freund von früher treffen, der in Toronto lebt. Und am Sonnabend mit ihm ausgehen.
Die Schlange rührt sich.
Ein Freund soll ihm wichtiger sein als der eigene Sohn?
Nein, aber Dad sieht seine kanadischen Freunde nicht sehr oft. Mit mir kann er jederzeit verreisen.
Und warum hat er das dann nicht gesagt? Und abgesehen davon, warum will er nicht, dass sein Freund seinen Sohn kennenlernt?
Vielleicht will er das ja. Aber Freunde reden von früher. Er wird gedacht haben, das wird mich langweiligen.
Er hätte dich ja fragen können. Das hat er nicht getan. Warum? Und warum will er nicht, dass
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