Im Feuer der Nacht
amüsierten Blick zu. »Ja, das bin ich.« Sie schaute wieder nach vorn und fügte hinzu: »Es ist nicht lange her, dass ich in dieser Gegend gewohnt habe.«
Stokes schnaubte. »Es müssen mindestens ... zehn Jahre sein.«
»Wie taktvoll«, ihr Lächeln wurde breiter, »allerdings sind es schon sechzehn. Im Alter von fünfzehn Jahren habe ich mein Elternhaus verlassen, um in die Lehre zu gehen. Aber ich bin so oft zu Besuch gewesen, dass ich den Kontakt niemals vollständig verloren habe. Ganz zu schweigen meinen Orientierungssinn.«
Stokes presste ein verlegenes »Hm« hervor. Auch gut, dachte er, denn in den engen, verschlungenen Straßen mit dem Smog, der über ihnen schwebte und die Sonne verdeckte, geriet er in Schwierigkeiten zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen musste. Aber immerhin hatte er jetzt erfahren, wie alt sie war. Fünfzehn plus sechzehn ergab einunddreißig. Ein paar Jahre älter, als er sie geschätzt hatte. Was ihm ausgezeichnet in den Kram passte, denn er war neununddreißig.
Die beiden entfernten sich aus der Stadtmitte, hatten Aldgate und Whitechapel im Rücken, Stepney noch vor sich. Und sie waren auf der Suche nach Arnold Hornby. Nachdem sie am Freitag die gedruckten Steckbriefe an den Marktständen sowohl in der Petticoat als auch in der Brick Lane verteilt hatten, hatten sie die Adressen »besucht«, die ihnen für Slater und Watts genannt worden waren. In beiden Fällen hatten sie die Häuser so lange beobachten können, dass sie sicher waren, dass keiner der beiden Männer in verbrecherische Angelegenheiten verstrickt war.
Stokes hatte darüber nachgedacht, Slater und Watts zu verhören. Aber das Risiko war einfach zu groß, dass sie, selbst wenn sie nichts wussten, in den betreffenden Kreisen das Interesse der Polizei an irgendeiner Anstalt erwähnten. Auf diese Weise würden sie die Lehrmeister indirekt warnen; die Anstalt würde verlegt, die Jungen würden versteckt werden.
»Darüber hinaus«, hatte Griselda gemeint, »haben wir noch mehr Namen, denen wir auf die Spur kommen müssen.«
Und genau das war es, womit sie sich heute, an einem Samstag, beschäftigten - sie waren auf der Jagd nach Arnold Hornby.
Es schien, als hätten sie sich bereits schrecklich weit treiben lassen, tief in gefährliches Territorium hinein. Hin und wieder warf Stokes einen Blick auf Griselda, aber falls sie nervös wurde oder sich unbehaglich fühlte, gab sie nichts zu erkennen. Obwohl sie sich wieder einmal verkleidet hatten, wirkten sie für die Gegend, in die sie nach und nach eindrangen, langsam als zu gut gekleidet.
Trotzdem schritt Griselda zuversichtlich voran. Er hielt sich neben ihr, an ihrer Schulter, hielt die Augen offen und spannte sich innerlich immer mehr an, je größer das Gefahrenpotenzial wurde.
Aber ihm war auch sehr deutlich bewusst, dass er sich nicht annähernd so angespannt gefühlt hätte, wäre er allein unterwegs gewesen.
Sie erreichten eine Weggabelung. Ohne zu zögern schlug sie den Weg nach links ein, der sie noch weiter von London entfernen würde.
»Ich dachte«, brummte Stokes, »dass das East End gewöhnlich nur so weit reicht wie der Dialekt, den man in ihm spricht.«
Griselda lachte. »Das stimmt. Aber es kommt darauf an, wie der Wind steht.«
Kurz darauf fügte sie hinzu: »Es ist nicht mehr weit. Kurz hinter der nächsten Gasse auf der linken Seite.«
»Das Gebäude mit der grünen Tür?«
Sie nickte. »Wie praktisch. Genau gegenüber befindet sich eine Gaststätte.«
Er ergriff ihren Arm, und sie eilte zur der Kneipe, ohne der Hütte mit der grünen Tür nähere Beachtung zu schenken. »Könnte sein, dass wir alles Nötige erfahren, während wir essen«, murmelte Stokes ihr ins Ohr.
Sie nickte zustimmend und ließ sich von ihm ins Gasthaus führen.
An einem Tisch im hinteren Teil lungerten drei Raufbolde herum, aber davon abgesehen war der kleine Schankraum leer. Es war beinahe Mittagszeit; sicher würden bald mehr Leute eintreffen. Vor dem Fenster, das auf die Straße zeigte, stand ein Tisch. Die hölzernen Fensterläden waren weit geöffnet und erlaubten einen ungehinderten Blick auf das gegenüberliegende Gebäude. Griselda steuerte auf den Tisch zu, Stokes folgte.
Die Stühle waren ungehobelt, und beinahe hätte Stokes ihr einen Stuhl zurechtgeschoben. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich stoppen. Sie nahm sich selbst einen Stuhl, setzte sich und schaute zum Fenster hinaus. Er zog sich den Stuhl neben ihr heran, stellte ihn in einem
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