Im Fischernetz (German Edition)
Freudenhaus.«
Sayain biss sich auf die Lippen, als die Bilder aus seinem Traum wiederkehrten. Sein Dorf, Menschen, die er als seine Familie gekannt hatte und die ihn plötzlich mit finsteren Blicken bedachten, weil herausgekommen war, was er war, als er mit anderen Jungen aus seinem Dorf im nahen See schwimmen gegangen war. Er hatte gespürt, wie sich Liebe in Hass verwandelt und sogar seine Ziehmutter sich von ihm abgewandt hatte. Wechselbalg und Dämonenkind hatten sie ihn genannt, hatten ihn eingesperrt und untersucht. Als der Scheiterhaufen aufgeschichtet wurde, hatte sich seine Ziehmutter dann doch der alten Bande erinnert und ihm die Flucht ermöglicht. Sayain war geflohen, aber die Risse in seiner Seele waren tiefer geworden.
»Die Händler gaben mir manchmal Freigang an Deck... damit ich nicht verkümmere, wie sie sagten. Einmal, bei Nacht, versuchte einer von ihnen mich anzufassen, auch wenn ihr Anführer es ihnen verboten hatte. Jungfrauen verkaufen sich besser...« Sayain schnaubte. »Ich weiß nicht mehr, wie, aber ich wehrte mich, er ließ mich los, und ich floh. Ich sprang ins Meer. Die Küste war nahe, ich schaffte es, an Land zu schwimmen .«
Alvar grinste. »Du geflohen, du jetzt frei. Können vergessen .«
Sayain nickte, aber er schmeckte beinahe die Bitterkeit des Lächelns, das über seine Lippen kroch. »Ich könnte, ja. Ich kann aber nicht .« Er atmete tief. Ein Schauer rann über seinen Rücken, und er spürte, wie Alvars Hand ihn sanft streichelte. Für einen Moment versteifte er sich, dann riss er sich zusammen. Alvar meinte es gut. Er wollte ihm nur helfen.
»Sei froh, dass Galdur dich nicht an ein Freudenhaus verschachert hat. Ich habe auf dem Schiff genug Geschichten gehört und bin froh, dass ich vorher abhauen konnte .« Sayain schluckte. Und sei froh, dass du nicht anders bist als alle anderen. Ich würde dir so gern mehr sagen... aber ich kann nicht. Ich kann es dir nicht sagen. Wahrscheinlich würdest du dann auch gehen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er nicht wollte, dass Alvar ging. Ich muss verrückt sein... Mit geschlossenen Augen senkte er den Kopf. Er spürte, dass sich feuchte Tropfen den Weg über seine Wangen bahnten, und er wollte nicht, dass Alvar ihn weinen sah.
Einen Moment lang saßen sie stumm da. Alvar sagte nichts. Sein Arm lag noch immer sanft und warm um Sayains Schultern. Langsam, ganz langsam gelang es Sayain , sich zu entspannen. Hin und wieder spürte er Alvars Hand sanft über seinen Rücken streichen, aber mehr tat der andere nicht, mehr wollte er nicht. Eine brüderliche Geste, eine tröstende, nicht mehr.
»Mehr teilen ?« fragte Alvar schließlich.
Sayain sah auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Sein Blick wanderte zum Fenster. Die Kerze war heruntergebrannt und draußen dämmerte es bereits. Der nahende Sonnenaufgang tauchte das Meer am Horizont in goldenes Rot.
»Was willst du wissen ?« antwortete Sayain mit einer Gegenfrage. »Du weißt doch, wie es ist, gefangen zu sein... und nicht zu wissen, was als nächstes kommt...«
Alvar nickte. Sayain spürte, wie er seinen Arm zurückzog und sich leicht drehte, so dass er ihm gegenüber saß.
»Du... mich ansehen .«
Sayain wandte sich ihm zu und zwang sich, den forschenden Blick zu erwidern.
»Sag mir. Du... nicht gewesen auf Schiff. Du nicht gewesen Sklave von Galdur .«
Sayain schluckte, dann schüttelte er langsam den Kopf und senkte den Blick.
»Nein«, sagte er leise, »ich war nicht auf dem Schiff, und ich habe Galdur das erste Mal gesehen, als ihr hier an Land gegangen seid, um die beiden Mädchen und den kleinen Jungen zu holen .«
Zu seinem großen Erstaunen grinste Alvar schief. »Ich gewusst. Warum du lügen ? Warum nicht sagen Wahrheit ? Angst...vor was?«
»Ich habe keine Angst«, murmelte Sayain , ein wenig zu schnell, denn er spürte Alvars Hand unter seinem gesenkten Kinn, die ihn zwang, wieder aufzublicken.
»Du schon wieder lügen .«
Sayain seufzte. »Es heißt 'Du lügst schon wieder!' .«
Alvar grinste. »Gut. Du lügen schon wieder. Und du haben Angst.«
»Hast.«
»Du...hast Angst ?«
»Ja.«
Sayain hörte Alvar seufzen.
»Richtig Sprache, oder richtig Gefühl?«
Sayain wandte sich wieder ab, stand auf und ging zum Fenster.
»Beides«, sagte er leise. Er pulte Steinchen aus dem lockeren Mörtel am Fensterrahmen und warf sie nach unten in den Garten. Eine Weile blieb es still, dann erklangen tappende Schritte und Alvar stand hinter ihm.
»Warum ?«
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