Im fünften Himmel
auf diesen Anruf.
Sunnys Mutter hatte sie am Ellbogen zum Lift geführt. Als Jessica einstieg, sagte die Mutter: »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sunny hält so groÃe Stücke auf Sie.«
Ehe Jessica ihrerseits dasselbe sagen konnte, gingen die Fahrstuhltüren zu.
Und dieser letzte Blick auf Mrs. Daes gequältes Gesicht hatte Jessica dazu getrieben, gestern Abend zu viel zu trinken. Zum ersten Mal seit dem letzten Mal, als sie zu viel getrunken hatte, und auch daran möchte sie nicht so gern denken, allerdings aus ganz anderen Gründen.
»Miss! Miss!«
Jessica weiÃ, dass Sunny die Ohrhörer ihres MP3-Players drinhatte, als es passierte. Das weià sie einfach. Aber welchen Song hat sie gehört? Wem hat sie als Letztes gelauscht, ehe dieser Fahrer das Stoppschild überfuhr, sie auf dem FuÃgängerüberweg rammte und dann einfach weiterraste? Solche Fragen haben Jessica gestern zur Flasche greifen lassen. Nicht die Fragen an sich, sondern die Angst davor, keine Gelegenheit mehr zu haben, sie beantwortet zu bekommen.
Was will sie also jetzt trinken? Jessica hat keine Ahnung. Gestern hat sie den Zinfandel ihrer Mutter getrunken, weil sonst nichts im elterlichen Kühlschrank stand. Sie ist so lange nicht mehr in einer Bar gewesen, dass sie sich überhaupt nicht entscheiden kann, was sie bestellen soll, wenn sie dort ist. Sie erinnert sich, wie sie früher Vertreter des anderen Geschlechts zu beeindrucken oder vielleicht einzuschüchtern versucht hat, indem sie brutal Whiskey pur bestellt hat. Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, den Schnaps in einem Schluck hinuntergekippt, das Feuer in der Brust weggeschüttelt, das Glas verkehrt herum auf die Theke gestellt und gewartet, nie sehr lange, dass der männliche Beobachter die nächste Runde bestellte. Jetzt, nur wenige Jahre später, ist ihr der Gedanke an die einsame Thekenhockerin peinlich, die niemandem etwas vormachte. Nicht mal sich selbst.
»MISS!«
Die Hartnäckigkeit der Stimme und der Eindruck, dass sie näher kommt, bringen sie dazu, ihren Schritt zu verlangsamen. Vielleicht habe ich das Gesicht einer »Maâam«, aber den Arsch einer »Miss« , grübelt sie. Zum Ausgleich für das Kompliment, das sie gerade ihrem eigenen Hintern gemacht hat, erwartet sie halb, dass ihr ein Wildfremder erzählt, das Klobrillenpapier hinge ihr aus dem Jeansbund wie ein unhygienischer JackenschoÃ. Mit diesem Gedanken im Kopf dreht sie sich um und sieht zwei Polizisten rechts und links von ⦠Marcus Flutie.
Die Erde grollt.
Ãffnet sich unter ihren FüÃen.
Das stabile Fundament, das sie seit ihrer Trennung mühevoll errichtet (und nach dem Zusammenprall vorhin hastig wiederaufgebaut) hat, ist plötzlich und heftig erschüttert und zersplittert.
Sie schwankt in ihren Turnschuhen.
Sie möchte schreien: »Keine Panik, Leute! Mir wird bloà gerade der Boden unter den FüÃen weggezogen!«
Sie sucht in den Trümmern nach einer rationalen Erklärung für dieses zweite Zusammentreffen innerhalb von zwei Stunden, sucht nach einem Halt gebenden Beweisstück, das ihr helfen kann, sich wieder ins Lot und die Dinge unter Kontrolle zu bringen.
»Entschuldigen Sie, Miss«, sagt der erste Polizist. »Dieser Mann behauptet, Sie zu kennen. Er sagt, er wartet auf Sie.«
Marcus ist immer noch da. Und sie auch.
»Kennen Sie diesen Mann? Oder haben wir hier ein Sicherheitsproblem?«, bellt der Pitbull.
»Nein«, krächzt die immer noch schwindelige Jessica. Die Antwort ist nicht die richtige, und Unruhe zieht wie ein Schatten über Marcusâ Gesicht. Sie konzentriert sich auf die offene Naht an Marcusâ Pulloverausschnitt, den winzigen Faden. Jessica fällt ein Song ein, den sie seit Jahren nicht gehört hat, von einer Band, auf die sie nie so besonders gestanden hat, obwohl sie den Sänger ganz süà fand, auf so eine gewisse leidende und intellektuelle Art, wie sie übrigens auch Marcus neuerdings offenbar kultiviert. Wie ging noch gleich der Text? If you want to destroy my sweater ⦠Hold this thread as I walk away â¦
Der winzige Faden eines Kaschmirpullovers, den eine ehemalige oder aktuelle Geliebte ihm gekauft hat, wie sie vermutet â nein, wie sie sicher weiàâ, wird der sprichwörtliche Strohhalm, an den Jessica sich klammert.
»Nein, wir haben kein Sicherheitsproblem.«
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