Im Funkloch
und ich wünschte mir nichts mehr, als mit Tina alleine zu sein. Wobei Janka wahrscheinlich gar nicht bemerken würde, wenn wir in den Büschen verschwinden würden.
Ich sah zurück. Und erst jetzt fiel mir auf, dass Janka aufgehört hatte zu telefonieren. Sie hatte die Arme um sich geschlungen und schaute zu Boden.
Tina drehte sich um. »Lassen wir sie in Ruhe«, sagte sie leise. »Sie wird einiges verdauen müssen . . .«
Ich schaltete die Taschenlampe ein. Den Teer hatten wir hinter uns gelassen, nun knirschte wieder Kies unter unseren Sohlen.
»Vielleicht klärt sich nie auf, was mit Lucas passiert ist«, dachte ich laut. »Ich meine, es kommt doch immer wieder vor, dass Personen vermisst werden und man nie erfährt, was mit ihnen passiert ist. Oder dass sie einfach verschwinden und ihre Identität ändern.«
»Ich glaube, der taucht wieder auf. Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass er es schafft, wirklich spurlos zu verschwinden. Und dann finden sie ihn.«
Über die andere Möglichkeit sprachen wir nicht. So wenig ich Lucas auch mochte – dass ihm etwas zugestoßen war, wünschte ich mir nicht . . .
»Schade, dass wir morgen wieder nach Hause fahren«, sagte sie. »Das ist hier zwar wirklich der Arsch der Welt, aber . . .«
»Was, aber?«
»Nächste Woche sind wir wieder in der Schule, in zwei verschiedenen Klassen. Und ich . . . na ja, ich hätte gern weiter mit dir zu tun.«
»Ich auch mit dir«, erwiderte ich, warf ihr einen Seitenblick zu, um zu sehen, wie sie darauf reagierte, konnte aber nur ihren Umriss ausmachen. Und ihr ins Gesicht zu leuchten kam jetzt wahrscheinlich nicht so gut.
»Vielleicht kommst du ja wirklich zu uns in die Klasse«, sagte sie. In diesem Moment konnte ich mir keinen besseren Grund vorstellen, zum Gymmi zu werden.
Etwas machte Klick in mir. Ich drehte mich zu Janka um und gab ihr die Taschenlampe. »Geh du mal vor«, sagte ich.
Tina wollte schon weiter, dem Lichtkegel folgen, aber ich hielt sie am Oberarm fest.
Und dann küsste ich sie.
Einfach so.
Sie zögerte keinen Augenblick lang, sondern erwiderte den Kuss. Ich hielt die Augen geschlossen und genoss ihren Geschmack.
Als wir uns voneinander lösten, spürte ich einLächeln auf ihrem Gesicht. »Wurde auch Zeit«, sagte sie und beugte sich wieder zu mir.
Keine Ahnung, wie lange wir noch dastanden, von Janka war jedenfalls nichts mehr zu sehen. Lachend liefen wir ihr hinterher, wären einige Male fast in den Graben gefallen, aber schließlich sahen wir den Lichtschimmer der Taschenlampe wieder und holten sie ein. Ich war sicher, dass sie genau wusste, was passiert war, aber sie machte keine blöde Bemerkung.
Wir waren nur noch ein paar Biegungen vom Landschulheim entfernt, als Tina plötzlich sagte: »Da kommt was!«
Sie blieb abrupt stehen und Janka rannte ihr fast in den Rücken. Auch ich hielt an und lauschte.
Ja – etwas kam uns entgegen. Ich hörte ein Scharren und Grunzen.
»Ist das . . . ein Wildschwein?«, fragte Tina. Zitternde Panik hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie schob sich hinter mich.
Ich schluckte. »Keine Ahnung . . . hab noch nie eins gesehen . . . oder gehört.«
»Mach das Licht aus!«, drängte sie.
»Dann sehen wir es nicht!«, protestierte ich.
»Aber vielleicht lockt das Licht es erst an!«
Obwohl ich mir nicht sicher war, das Richtige zu tun, schaltete ich die Taschenlampe aus. Die Dunkelheit umfing uns wieder.
Das Schnaufen wurde lauter. Und es kam eindeutig von vorne.
Ich blinzelte in die Dunkelheit, sah aber nur schwarze Bäume vor schwarzem Hintergrund.
Dann kam das Tier um die Ecke gerannt – und hielt direkt auf uns zu.
Es war riesig.
So groß wie ein Mensch.
Und es schnaufte.
Tina schrie.
Das Tier blieb stehen.
»Scheiße – was soll'n das?«, brüllte es.
Es war kein Tier. Und die Stimme kam mir bekannt vor. »Noel?«, fragte ich.
»Samuel?«
»Kannst Sam zu mir sagen«, antwortete ich automatisch. »Äh . . . was zum Teufel . . .?«
»Was denn? Ich trainiere!«
»Hauptsache, du bist kein Wildschwein«, flüsterte Tina hinter mir.
»Und was macht ihr hier?«, fragte Noel.
»Wir . . . haben nur mal telefoniert. Im Dorf. Weißt schon, wegen Funkloch.«
Unangenehme Stille machte sich breit.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Ich würde sagen . . . ihr habt mich nicht gesehen und ich hab euch nicht gesehen.«
»Klingt vernünftig«, meinte ich.
»Dann ist ja alles klar.« Noel machte einen Bogen um uns herum, rannte wieder los,
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