Im Gewand der Nacht
konnte. Daher war es vermutlich das Beste, den Raum eine Weile zu verlassen.
»Hmm.« Muhammed Süleyman schob eine Zigarette in seine silberne Zigarettenspitze und führte sie an den Mund. Mehmet stand pflichtbewusst auf, um seinem Vater Feuer zu geben.
»Ich habe Hikmet Sivas einmal gesehen. Das muss Ende der fünfziger Jahre gewesen sein.«
»Tatsächlich, Vater? Und wo?«
»Als mein Onkel Selim nach vielen Jahren im Exil – auf Malta, glaube ich – wieder nach Hause durfte, hat er mich einmal in den Yıldız-Palast mitgenommen, in dem er aufgewachsen war.« Muhammed Süleyman lächelte bei der Erinnerung daran. »Ein wirklich bemerkenswertes Bauwerk, wenn man alle Bereiche besichtigen kann – was mir damals vergönnt war, heute aber nicht mehr möglich ist. Wie ein Spiegelbild vom Geisteszustand des Sultans, der die Pläne dafür gemacht hatte. Sultan Abdülhamit, der Onkel meines Onkels, ein schwer gestörter Mann. Deine Frau hätte ihre helle Freude an ihm gehabt.« Erneut hob er die Zeitung vor die Nase.
»Ja, Vater. Und was ist mit Hikmet Sivas?«
»Ach ja, richtig.« Muhammed legte die Zeitung weg.
»Damals machten sie gerade Filmaufnahmen im Palast. Irgendein Yeşilcam-Historienschinken. Sivas war damals zwar noch nicht berühmt, aber ich erkannte ihn später in einem Hollywoodfilm wieder. Seltsamerweise trug er die Uniform eines Janitscharen, was vollkommen absurd war, wenn man bedenkt, dass Mahmut II. dieses Elitekorps bereits zerschlagen hatte, bevor Abdülhamit überhaupt geboren wurde. Sivas stand damals vor dem Sale Köşkü, diesem Pavillon, der aussieht wie ein Schweizer Châlet. Es war ein völlig unpassendes Bild, wahrscheinlich habe ich es deshalb im Kopf behalten.«
Mehmet lächelte. »Wahrscheinlich.«
»Ja.« Und wieder verschwand Muhammed hinter seiner Zeitung.
Wie so viele seiner aristokratischen Ahnen wurde Mehmets Vater von Jahr zu Jahr exzentrischer, aber im Gegensatz zu einigen seiner berühmtesten und mächtigsten Vorfahren war Muhammed weder gefährlich noch geistesgestört. Man konnte ihn zwar durchaus als schwach, verschwendungssüchtig und gehemmt im Umgang mit Gefühlen bezeichnen, dennoch hatte er Mehmets Haus nicht nur auf Geheiß seiner nörgelnden Frau aufgesucht, sondern auch, weil er sich Sorgen um Zelfa machte. Im Gegensatz zu seiner Frau Nur mochte er seine irische Schwiegertochter, und er liebte seinen Enkel Yusuf İzzed din. Natürlich hatte er – als Mann – nicht darum gebeten, das Kind sehen zu dürfen. Doch als Mehmet schließlich vorschlug, einen Blick auf das schlafende Baby zu werfen, sprang Muhammed Süleyman nur allzu bereitwillig aus seinem Sessel hoch.
İkmen erinnerte eher an ein Gespenst als an einen Menschen, als er den entsetzt dreinblickenden Hikmet Yıldız in die Saka Selim Sokak zog, direkt gegenüber der Kirche des heiligen Antonius von Padua.
»Was tun Sie hier in der İstiklal Caddesi?«, fragte der Inspektor mit leiser, eindringlicher Stimme. »Warum sind Sie nicht in Kandilli?«
»Ich soll mich auf der Wache zurückmelden.«
»Das erklärt nicht, warum Sie hier sind.«
»Ich bin mit dem Bus gefahren, Inspektor«, sagte Yıldız.
» Polizeipräsident Ardiç hat eine ganze Reihe von Beamten weggeschickt: Inspektor İskender, Wachtmeister Çöktin, den Techniker. Sämtliche Wagen waren schon voll, deshalb musste ich den Bus nehmen. In Taksim bin ich ausgestiegen, und jetzt wollte ich durch Karaköy und über die Galatabrücke zur Wache laufen.«
İkmen verzog das Gesicht. »Das gibt’s doch nicht«, sagte er. »Ich verstehe das nicht. Was geht hier vor?«
Yıldız zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
»Oh Allah!« İkmen hustete. »Na ja, wo Sie schon mal hier sind, können Sie mir helfen. Genau genommen könnte es sich sogar als sehr nützlich erweisen, dass Sie mir gerade jetzt über den Weg gelaufen sind.«
»Ah, verstehe. Also möchten Sie, dass ich das erledige, worüber wir letzte Nacht gesprochen haben. Keine Fragen stellen und …«
»Etwa hundert Meter weiter auf der rechten Seite der İstiklal gibt es ein Geschäft für Damenmoden«, sagte İkmen. »Die Boutique XOOX.«
Yıldız, der aus einem fast reinen Männerhaushalt stammte, runzelte die Stirn.
»Ich möchte, dass Sie in diese Boutique gehen«, fuhr İkmen fort. »Nehmen Sie irgendein kleines Teil aus einem der Regale, sehen Sie sich eine Weile um und verhaften Sie dann das fette Mädchen in den schwarzen und rosa Klamotten, sobald sie das Geschäft
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