Im Gewand der Nacht
Kaycee erleichtert feststellte, denn Hikmet hatte ihr erzählt, dass Klimaanlagen hier noch nicht zum Standard gehörten. Dagegen empfand sie den leicht fauligen Geruch, der ihr in die Nase stieg, als wesentlich unangenehmer. Es gelang ihr nicht, die Quelle auszumachen, und da ihr Mann keinerlei Anstoß daran zu nehmen schien, behielt sie ihre Meinung für sich. Sie fanden Vedats Wagen auf dem Parkplatz und luden das Gepäck in den Kofferraum. Das Fahrzeug war zwar mit Sicherheitsgurten ausgestattet, sie schienen aber nicht richtig zu funktionieren, daher beschloss Kaycee, im Zweifelsfall auf die Airbags des Wagens zu vertrauen. Auf Vedats Vorschlag hin nahm sie vorne neben ihm Platz, damit er ihr während der Fahrt ein paar Sehenswürdigkeiten zeigen konnte. Im Inneren des Wagens, einem neuen Volvo, roch es nach Zigarettenqualm und Schokolade.
Kurze Zeit später fuhren sie auf der breiten Londra Asfaltı- Schnellstraße in Richtung Innenstadt. Auf den ersten Blick wirkte Istanbul so exotisch und geheimnisvoll wie New Jersey, aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man inmitten einer Reihe von Mietshäusern ein fast vollkommen verdecktes osmanisches Gebäude, hinter Geschäftszeilen aufragende Minarette und die schönsten Brunnen der Welt … Doch all dies erforderte zumindest gewisse Vorkenntnisse, die Kaycee fehlten. Außerdem wäre ein etwas langsamerer Fahrstil hilfreich gewesen. Aber als echter Türke hatte Vedat nie gelernt, langsam zu fahren, wie Hikmet für sich feststellte, während er die erste Zigarette seit ihrer Ankunft aus der Jackentasche seines Bru ders nahm. Allah, der über das Schicksal eines jeden Lebewesens entschied, würde es schon richten, egal, wie schnell man fuhr und ob mit oder ohne Sicherheitsgurt und Airbags.
Als Hikmet die Zigarette anzündete, verzog Kaycee angewidert das Gesicht, nicht nur wegen der Tatsache, dass er überhaupt rauchte – was an sich schon ein Affront war –, sondern auch, weil das, was er rauchte, fürchterlich stank. Unfähig, sich länger zu beherrschen, wedelte sie den Qualm aus ihrem Gesicht und sagte empört: »Das ist ja ekelhaft!«
Beide Männer lachten. »Aber man muss sich doch den örtlichen Gegebenheiten anpassen, oder?«, sagte Hikmet.
»Also, wenn du mich fragst …«
Hikmet zuckte nur mit den Achseln und beugte sich vor, um ihr aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. »Bevor wir wieder abreisen, wirst du Zucker essen, Rakı trinken und dich wie ein wahrhaft türkischer Fußgänger durch den Verkehr schlängeln.« Er lachte erneut.
Doch Kaycee stimmte nicht in sein Lachen ein. Wie sie ihrem Mann bereits mehrfach gesagt hatte, war sie während ihres Aufenthalts in diesem Land durchaus zu Konzessionen bereit. Aber wenn Hi erwartete, dass sie ihr ganzes Leben umkrempelte, dann hatte er sich geirrt. Entschlossen wandte sie sich an Vedat und fragte: »Also, wo findet man hier den besten Yogakurs?«
Hatice İpeks Zimmer wies einige Ähnlichkeit mit dem von Hülya auf. Ihr Bett war, genau wie das von Hülya, mit Stofftieren übersät, Jeans und Jacken lagen verstreut auf dem Boden, und an den Wänden hingen Poster mit männlichen Popstars. In jeder Hinsicht ein typisches Teenagerzimmer, mit einer Ausnahme.
Canan, Hatices jüngere Schwester, hatte İkmen auf die Stapel von Schulheften auf dem Schreibtisch des toten Mädchens aufmerksam gemacht. Die meisten stammten aus der Gymnasiumszeit: Listen mit englischen Verben, Geschichtsaufsätze und mathematische Berechnungen. Doch darunter befand sich auch ein Heft, das wesentlich persönlicherer Natur war. In kindlicher Handschrift stand »Mein Tagebuch« auf dem Umschlag – eine verstörende Lektüre für jeden Vater eines jungen Mädchens.
İkmen ließ sich auf dem Stuhl neben Hatices Bett nieder, blätterte das Tagebuch durch und hielt gelegentlich inne, um einen der, wie er rasch feststellte, typischen Einträge zu lesen:
4. April. Heute hat Hassan Bey die Pastahane früher zugemacht. Als alle anderen gegangen waren, hat er mich in sein Büro mitgenommen. Ich hab alle meine Sachen ausgezogen und er seine. Dann hat er mir gesagt, wie schön ich bin, und meine Brüste berührt. Ich hatte wieder dieses schöne Gefühl, als er sie anfasste. Und dann, als er groß genug war, ist er in mich eingedrungen. Dieses Mal hab ich auf ihm gesessen, so dass er mich auf und ab bewegen konnte. Später hat er dann gesagt, dass es ihm Leid tut, dass es nicht so lange gedauert hat, aber dass das meine Schuld
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