Im Gewand der Nacht
er und zog seine Tochter von der Schaufensterpuppe fort. Sein Gesicht war grau vor Zorn.
»Woher stammt es?«, fragte İkmen den schockierten Lazar, der hinter ihm die Werkstatt betreten hatte.
»Das Kleid?«
»Ja. Woher haben Sie es? Wem gehört es? Was …«
»Çetin Bey!« Lazar hob eine Hand, um İkmen, der aus irgendeinem Grund in Rage geraten war, zum Schweigen zu bringen. »Ich weiß nicht, worum es hier geht, aber es sieht ganz so aus, als hätten Sie Ihre Tochter sehr erschreckt. Dabei hat das Mädchen das Kleid doch kaum berührt.«
»Sie hat es nicht angefasst, Çetin Bey«, sagte Berekiah. »Sie hat es sich nur angeschaut.«
Trotz ihrer Überraschung und ihres Schrecks musste Hülya insgeheim lächeln. Berekiah war ihrem Vater gegenüber für sie eingetreten, wenn auch auf sehr höfliche Weise. Wie wunderbar!
İkmen, dessen erster Zorn verraucht war, entspannte sich deutlich, ohne jedoch seinen Blick von dem Kleid abzuwenden.
»Es tut mir Leid, Lazar«, meinte er und schüttelte langsam den Kopf. »Der Anblick hat mir einfach einen Schock versetzt.«
»Was meinen Sie damit?«
İkmen wies mit der Hand in Richtung der Puppe. »Dieses Kleid«, sagte er, »der Schnitt und sogar einige der Details entsprechen genau einem Kleid, dass ich vor kurzem an einer toten Frau sah, einem Mordopfer.«
»Ach so, die kleine İpek …«
Einen Augenblick fragte İkmen sich, warum er überhaupt jemals versuchte, in einer Stadt mit zwölf Millionen unersättlichen Klatschmäulern Einzelheiten seiner Arbeit vertraulich zu behandeln. Doch dann nickte er bestätigend und legte kurz eine Hand auf die Schulter seiner Tochter, der bei der Erwähnung ihrer Freundin Tränen in die Augen gestiegen waren.
»Können Sie mir irgendetwas über das Kleid sagen?«, fragte İkmen Lazar.
»Der Schnitt ist osmanischen Ursprungs«, erklärte der alte Mann, während er zu der Puppe hinüberging und einen der filigranen Ärmel zwischen die Finger nahm. »Dieses Modell basiert auf einem Hochzeitskleid aus dem 19. Jahrhundert, das damals wahrscheinlich von einer Frau adligen oder königlichen Geschlechts getragen wurde. Wir fertigen dafür Schmuck im gleichen Stil an, und zwar für eine wohlhabende Dame, die wie eine osmanische Prinzessin gekleidet vor den Traualtar treten möchte.«
»Wissen Sie, wo die Dame dieses Kleid gekauft hat?«
Lazar schenkte ihm ein kleines, listiges Lächeln. »Ja. Und da Sie aus Üsküdar stammen, wissen Sie es mit Sicherheit auch, Çetin Bey.«
İkmen runzelte verblüfft die Stirn. Was hatte ein derart prächtiges Hochzeitsgewand mit dem Arbeiterviertel zu tun, in dem er aufgewachsen war? Die Leute dort interessierten sich eher für billige Anzüge oder Overalls als für prachtvolle Kleider aus teuren Stoffen. Doch während er noch in Lazars schlaue, belustigt wirkende kleine Augen blickte, dämmerte es ihm.
»Sprechen wir von den Heperschwestern?«, fragte er.
Lazars Lächeln wurde noch breiter. »Die Töchter von General Heper sind in der Tat etwas ganz Besonderes. Fräulein Muazzez’ Blindheit scheint der Qualität ihrer Stiche nicht zu schaden, sie sehen immer noch so aus, als wären sie mit der Maschine genäht. Diese Frauen sind wirklich ein Wunder.«
»Und ihrerseits ebenfalls Geschöpfe der osmanischen Zeit, obwohl sie das niemals zugeben würden.« İkmen seufzte. »Ich hätte früher auf sie kommen müssen.«
»Aber Ihr Kopf war voll von Goldmünzen und kleinen Prinzen und allen möglichen anderen unerledigten Angelegenheiten.« Lazar legte einen Arm um İkmens Schultern und geleitete ihn zurück in seine Privaträume. »Die Heper-Schwestern sind alt und können daher nicht einfach verschwinden, Çetin Bey. Meine Goldmünzen hingegen …«
Die beiden jungen Leute sahen den Männern nach, wie sie die Werkstatt verließen. Hülya wischte sich mit der Hand die letzten Tränen aus dem Gesicht. Dann schaute sie zu Boden.
»Ich nehme an«, sagte Berekiah und machte ein paar Schritte auf sie zu, »dass Fräulein İpek jemand war, den du gekannt hast.«
»Sie war meine beste Freundin.«
Berekiah streckte die Hand aus und berührte sanft ihre Fingerspitzen. »Es tut mir Leid, Hülya. Wirklich.«
Sie lächelte, doch der kakophonische Klang zahlreicher Polizeisirenen machte jede weitere Unterhaltung unmöglich.
Metin İskender gehörte nicht zu jener Art von Polizisten, die sich von Berühmtheiten leicht beeindrucken ließen. Er war bereits sehr jung zum Inspektor befördert worden und
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