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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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weil sie vorher kein braves Mädchen gewesen ist?«
    İkmen nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, bevor er antwortete. »Nein, ich würde so etwas nicht behaupten. Aber eine ganze Menge Leute werden genau das von ihr denken.«
    »Wer? Alte Männer und fromme Heuchler?« Hülya schürzte verächtlich die Lippen. »Mir doch egal, was die glauben!«
    »Aber …« İkmen steckte sich eine Zigarette an und atmete mit einem Seufzer aus. »Sieh mal, Hülya, ich muss dir noch etwas anderes sagen.«
    »Und was?«
    »Obwohl deine Freundin zweifellos vergewaltigt und verletzt worden ist, wissen wir inzwischen, dass sie nicht ermordet wurde.«
    Hülya runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
    İkmen erzählte seiner Tochter, was ihm Arto Sarkissian über die Art und die mögliche Ursache von Hatice İpeks Tod berichtet hatte. Noch während er sprach, bemerkte er, wie ihre Gesichtszüge versteinerten, ja, beinahe alterten.
    Als er mit seinen Ausführungen am Ende war, sagte sie: »Aber Papa, selbst wenn Hatice eines natürlichen Todes gestorben sein sollte, willst du diese schrecklichen Männer doch immer noch finden, oder?«
    »Aber natürlich«, erwiderte İkmen. »Doch wenn ich sie finde, Hülya, werde ich sie nicht mehr des Mordes anklagen können. Und den Beweis zu erbringen, dass ein unverheiratetes Mädchen, das keine Jungfrau mehr war, gegen ihren Willen …«
    »Sie haben ihr wehgetan, Papa!«
    »Ich weiß, mein Schatz, ich weiß.«
    »Und?«
    »Hülya, sieh mal …« İkmen schluckte unbehaglich »Ich weiß, dass das für dich schwer zu verstehen sein wird, aber manche Menschen mögen Schmerz, es …«
    »Männer mögen Schmerz, Frauen nicht!«, fauchte Hülya ihn wütend an. »Männer schlagen ihre Ehefrauen und zwingen sie, mit ihnen zu schlafen, und das Gesetz schützt sie auch noch!« Dann schaute sie zu Boden. »Nicht du, dich meine ich nicht.«
    »All das, wovon du sprichst, ist gegen das Gesetz, Hülya«, fuhr İkmen fort, »aber …«
    »Frauen müssen anständige Frauen sein, wenn sie Gerechtigkeit wollen!«
    İkmen räusperte sich. »Das stimmt nicht. Aber die Meinungen derer, die sich selbst als Moralisten bezeichnen, haben großen Einfluss in diesem Land. Wenn erst alle Fakten bekannt sind, werden manche von ihnen nur noch wenig Mitleid mit Hatice haben. Und obwohl ich diese Männer, wie versprochen, finden und vor Gericht bringen will, kann es sein, dass ihre Strafe nicht so hoch ausfällt, wie ich es gerne hätte. Wenn sie Hatice nicht ermordet haben, und wenn ihr Anwalt den Richter davon überzeugen kann, dass sie in den Geschlechtsverkehr eingewilligt hat, dann …«
    Eine Weile saßen sie schweigend da und hingen ihren Gedanken nach. Dann nahm Hülya den Faden wieder auf.
    »Weißt du, Papa«, meinte sie leise, »wenn wir so darüber reden, frage ich mich, ob Männer und Frauen in diesem Land jemals gleich sein werden, wo doch manche Leute meinen, dass Mädchen immer brav sein müssen, während Männer tun können, was sie wollen.«
    İkmen lächelte traurig. »Ich weiß«, sagte er, »aber nicht alle denken so. Ich zum Beispiel tue das nicht. Wie du weißt, habe ich Mustafa Kemal Atatürks Idee der Freiheit und Gleichheit der Frau immer unterstützt. Aber manche Leute, unter ihnen sogar Frauen, sind der Ansicht, dass eine Frau ihre Freiheit nur erlangen kann, indem sie Ergebenheit zeigt gegenüber ihrem Mann und …«
    »Allah?« Hülya schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich Religion für etwas Schreckliches halte, Papa. Dr. Halman hat mir einmal erzählt, dass während ihrer Kindheit in Irland die Frauen aus religiösen Gründen nicht einmal dann abtreiben durften, wenn sie schwer krank waren. Ich verstehe nicht, wie Mama so gläubig sein kann. Sie ist doch nicht dumm, oder?«
    »Nein, ganz bestimmt nicht«, lachte İkmen. »Und darum befolgt sie auch nur diejenigen Regeln des Islam, die ihr sinnvoll erscheinen. Türkische Frauen sind alles in allem sehr vernünftig, Hülya. Viele von ihnen beten, so wie deine Mutter, bleiben im Haus, um für ihre Familien zu sorgen und herrschen über ihr Heim wie Kaiserinnen. Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Ich widerspreche deiner Mutter höchstens, wenn es um die ganz großen Fragen der Kindererziehung geht. Sie herrscht über mich, und ihre Meinung ist genauso wertvoll wie meine.«
    »Ja, aber Papa, wenn in der Republik, so wie man es uns beigebracht hat, Staat und Religion getrennt sind, dann …«
    »Hör zu, Hülya«, sagte

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