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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Nadel
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mitgeteilt, dass ich jetzt die Vorbereitungen für Hatices Beerdigung treffen kann«, sagte sie, während sie auf Hülya zuging, der bei diesen Worten ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Sie musste daran denken, dass ihre Freundin wahrscheinlich eines »natürlichen« Todes gestorben war, deshalb fühlte sie sich in Gegenwart ihrer Nachbarin unbehaglich. Offiziell arbeitete ihr Vater jetzt an dem Fall Sivas, und obwohl Hülya wusste, dass er seine Ermittlungen zu den Umständen von Hatices Tod fortsetzte, hatte sie kein gutes Gefühl dabei – wenn sie auch nicht daran zweifelte, dass er alles in seiner Macht Stehende tun würde. Denn das hatte er ihr versprochen, und bisher hatte er sein Wort immer gehalten.
    »Mein Vater wird herausfinden, wer Hatice wehgetan hat«, sagte sie und legte behutsam eine Hand auf Hürrems Schulter.
    »Ja«, sagte Hürrem dankbar und rang sich ein kaum sichtbares Lächeln ab. »Es heißt, der Fall hat jetzt keine Priorität mehr, aber … Dein Vater ist ein guter Mann.«
    »Ja.«
    »Und meine Tochter war so ein schlechtes Mädchen …«
    Trotz des Staubs und Drecks, der sich durch die Nachlässigkeit des faulen Hausmeisters Aziz im Hausflur angesammelt hatte, ließ Hürrem İpek sich plötzlich auf den Boden sinken.
    »Frau İpek!«
    »Sie war eine Hure, Hülya, sie hat sich diesem Mann hingegeben, ihrem Arbeitgeber, der noch dazu verheiratet ist!«
    Mit schmerzverzerrtem Gesicht blickte sie zu Hülya auf. »Was hat sie sich nur dabei gedacht? Habe ich ihr die Werte ihres armen, toten Vaters denn nicht richtig beigebracht? Bin ich selbst so ein schlechter Mensch?« Dann brach sie in Tränen aus, nahm eine Hand voll Schmutz und rieb ihn sich über Gesicht und Brust, als wollte sie sich damit waschen.
    Hülya war bestürzt über so viel Kummer und Leid und versuchte, sie daran zu hindern. Aber ihre Nachbarin war viel stärker als sie.
    »Nein, lass mich! Ich muss bestraft werden! Ich verdiene es!«
    Katzenhaare, Zigarettenstummel, Staub, Süßigkeitenpapierchen und Zeitungsfetzen – immer wieder warf sie sich diesen ganzen Unrat über den Kopf, bis sie wie eine alte, weggeworfene Puppe aussah, die vergessen, einsam und allein auf dem Boden eines Mülleimers lag.
    »Frau İpek …« Hülya wollte gerade ihr langes, geblümtes Kleid raffen, um sich neben sie zu hocken, als sie Schritte auf der Treppe hörte. »Sie müssen aufstehen, Frau İpek!«, rief sie und beugte sich zu ihr hinab. »Da kommt jemand!«
    »Nein!«
    Und mit noch größerer Verzweiflung raffte Hürrem İpek weiteren Dreck zusammen und ließ ihn sich weinend und schreiend über den Kopf rieseln.
    »Hülya?«
    Das Mädchen drehte sich um und errötete, als sie sah, wer die Treppe heraufkam.
    »Berekiah!«
    »Ist die Dame hingefallen? Fühlt sie sich nicht wohl?« Er ging auf Hülya zu und stellte sich so dicht neben sie, dass sie die große Wärme spüren konnte, die sein von der Straße aufgeheizter Körper ausstrahlte. Hülya musste schlucken, bevor sie antworten konnte.
    »Das ist die Mutter meiner Freundin«, sagte sie. »Meiner toten Freundin, von der ich dir erzählt hab. Sie ist völlig verzweifelt.«
    »Das ist nur allzu verständlich«, erwiderte Berekiah, hockte sich vor Hürrem und streckte ihr eine Hand entgegen. Hülya hörte, wie sein frisches, weißes Hemd knisterte, während er sich vorbeugte.
    »Kommen Sie«, sagte er mit fester Stimme und ergriff Hürrems Hand. »Ich helfe Ihnen hoch, und dann kümmern wir uns um dieses ganze Durcheinander hier.«
    Und so plötzlich Hürrems Weinkrampf begonnen hatte, so plötzlich hörte er auch wieder auf. Sie öffnete den Mund wie zu einem stummen Schrei, taumelte in seine Arme und legte ihren Kopf an seine Brust. Auf diese Weise blieben sie eine ganze Weile stehen, während Hülya sich fragte, was Berekiah überhaupt hierher geführt hatte.
     
    Die Besprechung fiel kürzer aus, als İkmen erwartet hatte. Ardiç brachte die Möglichkeit ins Spiel, dass eine türkische »Familie« in die Sache verwickelt sein könnte, während er gleichzeitig jedoch betonte , die Überwachung des Sivas’schen Anwesens müsse fortgesetzt werden. Seiner Ansicht nach sei es noch zu früh, um sich bestimmte Familien vorzunehmen, da bisher keinerlei konkrete Hinweise vorlägen. Und das aus dem Munde des Mannes, der İskender aufgefordert hatte, in Beyazıt keinen Stein auf dem anderen zu lassen! Für Çetin İkmen ergab es allerdings durchaus einen Sinn, die Familien nicht gegen

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