Im Hauch des Abendwindes
nicht sehr zuverlässig«, erwiderte Myra ausweichend. Ruby hatte ihr von Kadees Schwangerschaft erzählt, aber das würden die anderen noch früh genug erfahren.
Eine Stunde später ging es los. Der Jeep war mit Benzinkanistern und einem großzügigen Wasservorrat sowie einem von den Frauen mit belegten Broten, Fleischkonserven und Obst gepackten Korb beladen worden. Die Männer gaben Jim noch ein paar gute Ratschläge für die Suche mit auf den Weg, und Myra bat Charlie, vorsichtig zu sein. Sie versicherte ihm, er brauche sich um seinen Laden keine Sorgen zu machen.
»Na, so was, wen haben wir denn da?«, sagte Ernie plötzlich. Die anderen schauten auf und folgten seinem Blick.
Etwa ein Dutzend Aborigines, darunter Jinny und Toby sowie einige junge Männer, kamen die Hauptstraße entlang auf die Gruppe zu, die sich um den Jeep versammelt hatte. Die Ureinwohner blickten finster drein.
Myra ging ihnen entgegen und fragte: »Was führt dich in die Stadt, Jinny?«
»Dieser Mann da! Charlie!« Sie zeigte aufgebracht auf den Ladeninhaber. »Er soll uns endlich sagen, wo Girra ist!«
»Er weiß es nicht, Jinny. Aber er und zwei andere Männer sind gerade dabei, sich auf die Suche nach ihr zu machen«, sagte Myra beschwichtigend.
Doch Jinny achtete nicht auf sie. Sie blickte an Myra vorbei zu Charlie und kreischte: »Was hast du mit meinem Kind gemacht?«
Charlie stieg wieder aus dem Jeep aus. »Ich habe Girra nichts getan«, beteuerte er. Doch es klang wenig überzeugend, weil seine Stimme vor Angst zitterte.
»Girra hat Mandu erzählt, dass du ihr wehgetan hast«, warf Toby ihm vor.
Die jungen Männer traten vor und stießen Drohungen in ihrer Sprache aus. Einige von ihnen waren sogar bewaffnet: Einer trug einen Speer, ein anderer eine Art Schlagstock, nulla-nulla genannt.
»Das ist nicht wahr«, protestierte Charlie verzweifelt. »Ich habe mir Sorgen um sie gemacht, weil sie nachts ganz allein unterwegs war. Sie hat mich an meine Tochter erinnert.«
»Du lügst!« Jinny zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. Blanker Hass spiegelte sich auf ihren Zügen. »Mandu war lange Zeit auf walkabout . Heute ist er zurückgekommen, und er hat uns gesagt, dass du meinem Mädchen wehgetan hast.«
»Nein! Ich schwöre, ich habe Girra nichts getan!« Charlies Verzweiflung wuchs. Er nahm sich vor, nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol anzurühren. Jedenfalls nicht, solange er Medikamente einnehmen musste.
»Wer von euch hat Charlie das tote Känguru auf die Türschwelle gelegt?«, warf Colin Barnes ein. »So etwas werden wir nicht dulden, habt ihr verstanden? Eigentlich sollten wir die Polizei verständigen!«
Eine hitzige Diskussion zwischen den beiden Gruppen entspann sich. Auf beiden Seiten wurden Drohungen und Beschimpfungen ausgestoßen. Als einer der jungen Aborigines Charlie mit seinem Speer bedrohte, lief Mick schnell in den Pub, holte sein Gewehr und entsicherte die Waffe. Plötzlich verstummten alle. Feindselig standen sich Weiße und Ureinwohner gegenüber. Die Spannung in der Luft war fast mit Händen greifbar.
Da zerriss ein Motorengeräusch die Stille. Alle wandten sich der Straße zu. Jeds Wohnmobil näherte sich in rasendem Tempo der Gruppe und bremste abrupt vor ihnen ab. Ruby und Jed sprangen gleichzeitig aus dem Wagen.
»Sieht so aus, als würde es Ärger geben«, murmelte Jed, der sofort das Gewehr in Micks Händen und den jungen Aborigine mit dem drohend erhobenen Speer registrierte.
»Verdammt!«, rief er. »Was ist hier los?«
Ruby eilte zu Myra, die sichtlich angespannt war.
»Girras Eltern glauben, dass Charlie etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun hat«, erklärte Mick.
Jed hatte sich fast schon so etwas gedacht. »Hört mal alle her«, rief er. »Ruby und ich haben gerade mit Girra gesprochen. Es geht ihr gut.«
»Was?« Jinny sah ihn ungläubig an. »Das glaube ich nicht! Du lügst.«
»Nein, es ist die Wahrheit«, versicherte Ruby. »Wir haben sie vor wenigen Minuten gesehen. Es ist alles in Ordnung, wirklich.«
»Und warum kommt sie dann nicht nach Hause?«, fragte Toby.
»Sie hat Angst«, antwortete Ruby.
»Angst?«, wiederholte Jinny verdutzt. »Wovor hat sie Angst?«
Ruby, die Girra versprochen hatte, ihre Eltern schon einmal behutsam vorzubereiten, falls sie sie sah, sagte: »Sie hat sich in einen jungen Mann verliebt und glaubt, ihr wärt nicht mit ihm einverstanden.«
Als die Aborigines keine Reaktion zeigten, fügte Ruby erklärend hinzu: »Sie möchte
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