Im Hauch des Abendwindes
seinem unehelichen Balg ruhig irgendeine wertlose Kleinigkeit hinterlassen – damit könnte sie leben. Sie konnte es kaum abwarten zu erfahren, was die beiden erben würden. Mehr als einmal hatte sie Marshall gefragt, doch dieser hatte geschwiegen wie ein Grab.
»Ich fürchte, Sie werden genauso überrascht sein, wie ich es war«, fuhr der Anwalt behutsam fort. »Joe fing ungefähr ein Jahr vor seinem Tod zu spielen an.«
»Was?« Carmel riss ungläubig die Augen auf. »Das kann nicht sein. Er hat gelegentlich einen kleinen Betrag verwettet, aber das war auch schon alles.« In der ersten Zeit nach ihrer Hochzeit war er gern zu Pferderennen gegangen, aber Carmel hatte ihm verboten, hohe Summen zu setzen.
Ruby beugte sich zu ihrer Mutter herüber. »War Joe etwa ein Spieler?«, wisperte sie.
»Er hatte eine Leidenschaft für Rennpferde, aber ich wüsste nicht, dass er vom Glücksspiel besessen war«, flüsterte Emily zurück. Sie war über diese Neuigkeit genauso erstaunt wie Carmel.
»Es tut mir sehr leid, Carmel«, sagte der Anwalt. »Aber anscheinend hat Joe nicht nur den Verstand verloren, sondern auch sein gesamtes Vermögen.«
Es dauerte einen Moment, bis Joes Frau die Bedeutung dieser Worte begriff. Dann klappte ihr Unterkiefer herunter, und das Zimmer begann sich um sie zu drehen.
Justin legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Mom? Alles in Ordnung? Keine Sorge, das ist sicher nur ein Missverständnis, das wird sich alles aufklären.« Dann sah er den Anwalt finster an. »Nicht wahr, Marshall?«, fügte er hinzu.
Marshall Humphries blickte betreten drein.
»Haben Sie etwa davon gewusst?«, fragte Jennifer Jansen vorwurfsvoll.
»Nun, ich hatte zwar einen Verdacht, aber das Ausmaß seiner Spielleidenschaft hat selbst mich schockiert«, gab der Anwalt zurück.
Marshall war nach Durchsicht der Unterlagen zu dem Schluss gelangt, dass Joe gewusst haben musste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Wohl deshalb hatte er sein ganzes Vermögen verspielt. Er konnte keine andere Erklärung finden. Der Anwalt kannte Joe seit vielen Jahren, und dieser hatte immer einen ausgezeichneten Instinkt fürs Geschäft und für den Umgang mit Geld bewiesen. Marshall hatte nie erlebt, dass er leichtsinnig investiert hätte.
Er wusste auch, dass die Jansens alles andere als eine glückliche Ehe geführt hatten. Carmel hatte es meisterhaft verstanden, ihren Mann ständig herabzusetzen. Jennifer und Justin waren maßlos verwöhnt und liebten das Nichtstun. Sie wussten die harte Arbeit, die ihnen ihr Luxusleben erst ermöglicht hatte, nicht im Geringsten zu würdigen. Marshall, der Joe sehr geschätzt und große Achtung vor ihm gehabt hatte, fand das sehr bedauerlich.
»Als Joe zu mir kam, weil er ein neues Testament aufsetzen wollte, gestand er mir, dass er hoch verschuldet sei.«
»Aber … das ist doch nicht möglich!«, stammelte Carmel bestürzt.
»Ich konnte es zunächst auch nicht glauben, deshalb habe ich einige Nachforschungen angestellt. Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es tatsächlich sehr schlecht aussieht. Sie werden das Haus verkaufen müssen. Joe hatte überall Schulden.«
Emily und Ruby wechselten einen verblüfften Blick.
Carmel sank für einige Sekunden in sich zusammen. Dann straffte sie sich jäh und sagte grimmig: »Das werde ich nicht tun. Es ist auch mein Haus und das meiner Kinder, die es einmal erben werden.«
»Ich fürchte, Sie haben keine Wahl, Carmel. Joe hat das Haus und andere Vermögenswerte als Sicherheit für seine Verbindlichkeiten eintragen lassen. Als er starb, war er bis zu den Augäpfeln verschuldet und konnte seine Kredite nicht zurückzahlen. Jetzt wollen die Gläubiger Geld sehen.«
Carmel schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne ihres Rollstuhls. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt, da nichts mehr zu retten ist?«, ereiferte sie sich.
»Ich hatte keine Ahnung von den enormen Ausmaßen der Schulden. Außerdem hätte mir zu Joes Lebzeiten auch nicht zugestanden, mit Ihnen darüber zu sprechen.«
Carmel schlug wimmernd die Hände vors Gesicht. Ihre Kinder flüsterten beruhigend auf sie ein.
Dann sah Justin den Anwalt an. »Soll das heißen, es ist nichts mehr da?«
Das allein war schon schockierend genug. Aber fast noch schlimmer war, dass die Geliebte seines Vaters und ihre Tochter Zeugen dieser Demütigung geworden waren.
»Jedenfalls nicht viel«, erwiderte Marshall ruhig. Er warf einen Blick auf die Dokumente, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen.
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