Im Hauch des Abendwindes
er fast erstickt wäre«, stieß sie bitter hervor, überrascht über den Groll, der plötzlich in ihr aufstieg. Sie hatte geglaubt, diese Empfindungen längst überwunden zu haben. »O mein Gott«, stieß sie aus.
»Was ist denn?«
»Ich habe mir fest vorgenommen, mich in Gegenwart von Joes Familie nicht von meinen Gefühlen hinreißen zu lassen, und jetzt sind meine guten Vorsätze schon dahin, obwohl ich das Haus noch nicht einmal betreten habe.«
»Du bist auch nur ein Mensch«, sagte Ruby tröstend.
»Trotzdem. Ich will keine Schwäche zeigen. Nicht vor dieser grässlichen Frau. Sie würde sich sofort darauf stürzen wie ein … ein Geier.« Emily wusste selbst, dass sie sich ein bisschen irrational benahm, aber sie konnte nicht anders.
»Es wird schon gut gehen, mach dir keine Sorgen«, beruhigte Ruby sie. »Diese Leute können uns nichts anhaben.«
»Ja, du hast Recht. Manchmal spricht aus dir die Weisheit des Alters.« Emily lächelte.
»Ich komm eben ganz nach dir«, scherzte Ruby.
Eher nach deinem Vater, dachte Emily, behielt es aber für sich.
Sie traten durch das schmiedeeiserne Gartentürchen und gingen den von Schneewittchenrosen eingerahmten Weg zur Veranda hinauf. Als sie die Stufen hinaufstiegen, wurde die Haustür geöffnet, und ein Mann trat heraus. Er wirkte ein wenig nervös, so als hätte er sie bereits ungeduldig erwartet.
»Miss Rosewell?« Fragend blickte er von Emily zu Ruby.
»Ganz recht. Ich bin Emily Rosewell und das ist meine Tochter Ruby. Und Sie sind Mr. Humphries, nehme ich an?« Sie erkannte seine Stimme von ihrem Telefonat wieder.
»Richtig. Ich bin … ich war Mr. Jansens Anwalt.« Marshall Humphries war überrascht, weil Emily so ganz anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Sie hatte ein offenes, freundliches Gesicht, eine angenehme Stimme und war darüber hinaus eine sehr attraktive Frau. Er hatte irgendwie damit gerechnet, einer zweiten Carmel zu begegnen, aber andererseits genügte eine wie sie auf der Welt ja vollauf.
»Freut mich«, sagte Emily. »Bitte entschuldigen Sie, falls wir uns verspätet haben sollten. Wir haben all die wunderschönen Villen und Gärten bewundert und darüber ganz die Zeit vergessen.«
Der Anwalt fand Emilys Offenheit erfrischend. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Keine Sorge, Sie sind pünktlich. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind.« Er zögerte, wollte hinzufügen, dass es sicherlich keine leichte Entscheidung gewesen sei, schwieg dann aber. »Bitte, treten Sie doch näher.«
Die beiden Frauen folgten ihm in die marmorgeflieste Eingangshalle und von dort weiter in ein holzgetäfeltes Zimmer mit zwei Bücherwänden. Der schmucklose Raum hatte eine ausgesprochen maskuline Note. Dass es ihm an Wärme und Behaglichkeit fehlte, erstaunte Emily nicht. Eine kalte Frau wie Carmel wäre niemals imstande, ein gemütliches Zuhause zu schaffen.
Ruby blickte sich neugierig um. Das hier musste das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen sein. Aber sie entdeckte nirgends irgendeinen persönlichen Gegenstand, ein gerahmtes Foto oder etwas Ähnliches, das ihr geholfen hätte, sich ein Bild von ihm zu machen.
Vor einem wuchtigen Mahagonischreibtisch waren zwei Reihen Stühle aufgestellt worden. Ganz vorne saß eine Frau in einem Rollstuhl, sie wandte ihnen den Rücken zu, genau wie die beiden jüngeren Leute neben ihr, Joes Kinder Jennifer und Justin, wie Emily vermutete. Ihr wurde buchstäblich schlecht bei Carmels Anblick.
Der Anwalt forderte Ruby und Emily mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen, und trat hinter den Schreibtisch. Seine Miene war angespannt. Emily konnte sich gut vorstellen, was er durchgemacht hatte, als er Joes Familie mitteilte, dass sie und Ruby bei der Testamentseröffnung anwesend sein würden.
Sie nahmen neben einem älteren Paar Platz, das einen sehr bescheidenen, zurückhaltenden Eindruck machte. Emily nahm an, dass es sich um Hausangestellte handelte, die Joe ihrer langjährigen treuen Dienste wegen in seinem Testament bedacht hatte. Sie nahmen keine Notiz von den beiden Frauen, was diesen sehr gelegen kam.
Fast gleichzeitig fuhren jedoch die beiden jungen Leute in der vorderen Reihe herum. Joes Kinder sahen sich sehr ähnlich. Ihre konservative Kleidung hatte vermutlich so viel gekostet, wie eine Friseurin im Jahr verdiente, aber Ruby hatte selten ein so abscheuliches Ensemble gesehen wie das ihrer Halbschwester. Guten Geschmack konnte man eben mit Geld nicht kaufen. Sie spürte, wie die
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