Im Hauch des Abendwindes
und reichte Ruby ein Blatt Papier.
»Ich brauche kein Rennpferd«, protestierte diese. »Was soll ich mit einem Rennpferd? Wovon soll ich das Futter oder den Tierarzt bezahlen?« Sie konnte nicht glauben, dass ihr Vater ihr etwas vermacht hatte, das sie zusätzlich Geld kosten würde.
»Jetzt sind Sie bestimmt wahnsinnig enttäuscht, dass kein Banknotenbündel für Sie rausgesprungen ist, was?« Auch Jennifer stand auf. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Ruby hasserfüllt an.
»Nicht mal halb so enttäuscht wie Sie«, schoss Ruby zurück. »Ihnen geht es bloß ums Geld! Schauen Sie sich doch mal an! Sie, Ihr Bruder und Ihre Mutter trauern ja nicht einmal um Ihren Vater und Ehemann!«
»Raus!«, schrie Carmel. Sie schwenkte ihren Rollstuhl so heftig herum, dass sie Justins Stuhl umstieß. Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe. »Verlassen Sie sofort mein Haus!«
»Mit Vergnügen«, versetzte Ruby. Sie stand auf und nahm den Arm ihrer Mutter. »Komm, Mom, wir gehen.«
5
Emily und Ruby verließen eilig das Haus und gingen zügig die Mary Street hinunter. Erst als sie um die nächste Ecke bogen, atmeten sie tief durch und verlangsamten ihr Tempo. Emily war völlig aufgelöst, Ruby ganz durcheinander.
Sie konnte nicht glauben, was in Joes Haus geschehen war. Die Attacken seitens seiner Familie waren ja keine Überraschung gewesen, aber dass sie jetzt anstatt Besitzerin eines hübschen kleinen Sümmchens, mit dem sie ihren eigenen Salon eröffnen könnte, Teilhaberin an einem Rennpferd war, das sie vermutlich mehr kosten würde, als es Gewinn einbrachte, war fast mehr, als sie verkraften konnte.
Sie wollte ihrem Unmut darüber gerade Luft machen, als ein schwarzer Hillman neben ihnen am Straßenrand hielt und jemand fragte: »Kann ich Sie mitnehmen, Ladys?« Es war Mr. Smithson. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Mrs. Mathers. »Bei der Hitze zu Fuß zu gehen ist doch viel zu anstrengend.«
Emily und Ruby wechselten einen verwunderten Blick. Bei der Testamentseröffnung hatte Mr. Smithson sie völlig ignoriert, und jetzt bot er ihnen an, sie mitzunehmen?
»Oh, vielen Dank, das ist sehr freundlich«, sagte Emily, »aber wir möchten Ihnen keine Umstände machen.«
»Ganz und gar nicht. Ich setze Mrs. Mathers in Lane Cove West ab. Sie wohnen doch auch in der Gegend dort, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt«, antwortete Emily, die sich fragte, woher er das wusste.
»Na, sehen Sie. Dann haben wir denselben Weg.«
Joes Chauffeur stieg aus und öffnete die hintere Wagentür. Emily und Ruby wechselten abermals einen kurzen Blick und stiegen dann ein. Als sie die Kenneth Street erreicht hatten, wandte sich Emily, die schweigsam und nachdenklich im Fond des Wagens gesessen hatte, an den freundlichen älteren Herrn.
»Darf ich Sie etwas fragen, Mr. Smithson?«
»Sicher.«
Er sah sie im Innenspiegel an. Seine silbergrauen, im Sonnenlicht schimmernden Haare rahmten ein gütiges Gesicht mit lebhaften blauen Augen ein. Er ahnte, was sie ihn fragen würde.
»Was ist mit Joe passiert? Mr. Jansen meine ich. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass er auf einer Geschäftsreise in den USA gestorben ist. Ist das wahr?«
»Er hielt sich in Florida auf, das ist richtig, aber nicht geschäftlich, sondern weil er sich dort behandeln ließ«, antwortete Mr. Smithson.
»Behandeln? War er denn krank?«
»Er litt seit Jahren an furchtbaren Kopfschmerzen«, sagte Mrs. Mathers. »Als die Ärzte einige Untersuchungen durchführten, entdeckten Sie einen Tumor in seinem Gehirn. Schreckliche Sache das, aber er war sehr tapfer.«
Emily gab ein ersticktes Schluchzen von sich, und Ruby drückte tröstend ihre Hand.
»Könnte das sein untypisches Verhalten erklären?«, wandte sich Ruby an Mr. Smithson. »Ich habe ihn ja nicht gekannt, aber offenbar war er doch nicht der Typ, der beim Glücksspiel regelmäßig hohe Summen setzte und verlor, oder?«
Mr. Smithson und Mrs. Mathers wechselten einen flüchtigen Blick.
»Nein, das war er gewiss nicht«, antwortete Mrs. Mathers.
»Ich glaube, seine plötzliche Spielleidenschaft rührte daher, dass er sein hart verdientes Geld nicht einer Familie hinterlassen wollte, die es nicht zu schätzen wusste«, fügte Mr. Smithson hinzu.
Seine Offenheit verblüffte Ruby und Emily, aber andererseits hatte er auch keinen Grund mehr zur Loyalität Carmel oder ihren Kindern gegenüber. Emily war nicht entgangen, dass von der Familie keiner den Dienstboten Glück
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