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Im Hauch des Abendwindes

Im Hauch des Abendwindes

Titel: Im Hauch des Abendwindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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beiden sie taxierten. Ruby trug einen weißen Minirock, ein figurbetontes schwarzes, kurzärmeliges Oberteil mit einem Modelabel auf der Brust und dazu weiße, hochhackige Sandaletten. Modische weiße Ohrringe und ein kräftiges Make-up ergänzten den Look einer modebewussten jungen Frau der Sechzigerjahre. In dem konservativen Arbeitszimmer kam sich Ruby in ihrer Aufmachung allerdings ein wenig fehl am Platz vor.
    Justin Jansen sprang auf und trat auf Ruby und Emily zu. Jetzt drehte sich auch Carmel zu ihnen um. Ihre kalten grauen Augen schossen giftige Blicke auf Emily.
    Emily hielt ihrem Blick stand. Verblüfft stellte sie fest, wie dramatisch Carmel gealtert war. Vor ihrem Unfall hatte sie sie zweimal gesehen, einmal persönlich, das zweite Mal auf einem Foto im Gesellschaftsteil der Zeitung, das gemacht worden war, als sie mit Joe eine Wohltätigkeitsveranstaltung besucht hatte. Sie war außergewöhnlich schön gewesen, aber ihre Züge ließen alles Weiche, Sanfte vermissen. Jetzt war ihr bleiches, knochiges Gesicht verhärmt – eingerahmt von dem schulterlangen silbergrauen Haar sah es fast gespensterhaft aus. Krumm und gebeugt saß sie in ihrem Rollstuhl. Die Verbitterung und die Anstrengung, Joe unglücklich zu machen, hatten sie verzehrt, aber Emily empfand kein Mitleid.
    Carmel war nicht versöhnlicher geworden, im Gegenteil, ihre Feindseligkeit Emily gegenüber war nahezu greifbar. Doch das wunderte Emily nicht. Im Stillen hatte sie gehofft, Joes Kinder würden toleranter sein und den Wunsch verspüren, ihre Halbschwester näher kennenzulernen. Jetzt erkannte sie, wie wirklichkeitsfremd dieser Gedanke gewesen war. Carmel würde das niemals zulassen.
    »Bitte setzen Sie sich, Justin«, sagte Mr. Humphries mit Nachdruck, doch der junge Mann achtete nicht auf ihn.
    Der Anwalt seufzte. Er hatte den ganzen Vormittag damit verbracht, beschwichtigend auf Joes Familie einzureden, was ihn viel Kraft gekostet hatte. Dass Carmel die Geliebte ihres Mannes nicht in ihrem Haus haben wollte, war zwar verständlich, aber die Regelung des Nachlasses lag schließlich auch in ihrem Interesse. Marshall Humphries hatte ihr klargemacht, dass sie sich zur Testamentseröffnung so oder so alle im selben Zimmer aufhalten mussten; daran führte nun einmal kein Weg vorbei. Carmel hatte das zu guter Letzt eingesehen. Ihre Kinder hingegen ließen sich nicht so leicht besänftigen.
    Justin baute sich vor Emily auf. »Ihre Anwesenheit im Haus meiner Mutter ist völlig inakzeptabel«, herrschte er sie an. »Mein Vater schuldete Ihnen nicht das Geringste dafür, dass Sie sich in Schwierigkeiten gebracht haben.«
    Ruby sprang auf. »Was fällt Ihnen ein, so mit meiner Mutter zu reden?«, empörte sie sich. »Es gehören immer zwei dazu, ein Kind zu zeugen, und in diesem Fall waren es zwei Menschen, die einander wirklich liebten.«
    »Das hätten Sie wohl gern, was?«, höhnte Justin. Seine Lippen zitterten, so krampfhaft versuchte er, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten.
    »Es ist die Wahrheit«, sagte Emily ruhig.
    Sie wollte sich nicht mit ihm streiten, aber sie wollte diese Behauptung auch nicht einfach im Raum stehen lassen, nur um Justins Gefühle nicht zu verletzen. Er nahm ja auch keine Rücksicht auf ihre Gefühle.
    »Mir scheint, Sie leben seit mehr als fünfundzwanzig Jahren in einer Fantasiewelt«, spottete Justin mit schneidender Stimme.
    »Wir nicht, aber Sie offenbar«, konterte Ruby. »Ich existiere nämlich! Ob es Ihnen passt oder nicht.«
    Emily sah Justin aufmerksam an, aber sie konnte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann feststellen, den sie so sehr geliebt hatte. Joe hatte einen dunklen Teint und schwarze Haare gehabt. Justin kam ganz nach seiner Mutter, nicht nur äußerlich, sondern offenbar auch, was seinen Charakter betraf. Joe war ein guter Mensch gewesen, gerecht, großzügig und humorvoll. Zu Emilys Enttäuschung schien der junge Mann nichts von alledem zu sein. Aber was hatte sie erwartet? Natürlich hatten Carmels Ansichten auf ihn abgefärbt.
    »Dass Joe und ich uns geliebt haben, ist kein Hirngespinst«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Sie können sagen oder denken, was Sie wollen, das wird nichts ändern.« Ihre Hände begannen zu zittern, so aufgewühlt war sie, und sie verschränkte sie im Schoß, damit man es nicht sah.
    »Ihr kleines Techtelmechtel hat Ihnen offensichtlich mehr bedeutet als ihm«, warf Carmel ein. Ihre schmalen Lippen, die passend zu ihrer Bluse in einem grellen Orange geschminkt

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