Im Hauch des Abendwindes
exotischer Vögel vernommen und den erdigen Geruch von Holz und feuchtem, modrigem Laub gerochen. Etliche Kilometer weiter sah sie steile Felswände in verschiedenen Ockertönen, tiefe Schluchten und üppigen Regenwald, in dem über zwei Meter hohe Baumfarne wuchsen. Sie sah tiefblau schimmernde Seen, grandiose Wasserfälle und Flüsse, die sich ihren Weg durch Eukalyptuswald gesucht hatten. Auf Steinbrücken überquerte der Zug in schwindelnder Höhe tiefe Kluften und verlangsamte das Tempo, wenn er durch idyllische kleine Weiler mit pittoresken Teestuben und schattigen Picknickplätzen fuhr.
Ruby konnte sich nicht sattsehen an der Schönheit der Natur. Der Zugbegleiter erklärte ihr, dass die Blue Mountains, die Blauen Berge, ihren Namen von dem bläulichen Dunst bekommen hatten, den die Eukalyptusbäume absonderten. Ruby fand diese Gegend wunderschön. Bisher hatte sie nichts anderes gekannt als Geschäfte und belebte Straßen und nie wirklich darüber nachgedacht, dass es außerhalb von Sydney noch so viel anderes gab. Sie war eben ein Stadtmensch und konnte sich nicht vorstellen, dass sich das jemals ändern würde.
Stunden später war die Landschaft eine vollkommen andere geworden – topfeben, eintönig und gestaltlos. Abgesehen von einem gelegentlichen Känguru oder einem Emu zwischen den spärlichen Gänsefußbüschen war nirgends ein Anzeichen von Leben zu entdecken. In Cobar, einer ländlichen Stadt im mittleren Norden, wo es staubig und drückend heiß war, hielt der Zug für einige Minuten. Einen weiteren kurzen Aufenthalt hatte er in Wilcannia, einer Kleinstadt am Darling River, in der mehr als die Hälfte der Einwohner Aborigines waren, wie Ruby vom Schaffner erfuhr, einem älteren, wohlbeleibten Herrn namens Nigel Finke. Sie sah viele Ureinwohner im Schatten von Bäumen am Flussufer sitzen, während ihre Kinder im seichten Wasser plantschten. Hinter der Stadt erstreckte sich eine steppenähnliche Landschaft, eine menschenleere Einöde, so weit das Auge reichte. Das täusche, meinte der Schaffner; es gebe etliche Schaffarmen in der Gegend. Ruby fragte sich, was die armen Tiere denn fressen sollten, wo hier doch praktisch nichts wuchs. Und dann diese Hitze, fast fünfundvierzig Grad, und kein Schatten weit und breit. Sie hatte das Fenster schon einige Zeit zuvor wieder geschlossen, weil die Luft draußen heiß wie die aus einem Hochofen war.
Erst als die Sonne tief im Westen stand und den Himmel mit verschiedenen Rot- und Orangetönen, mit Nuancen in Rosa und Lila überzog, wurde die Hitze erträglicher. Der Schaffner erwies sich als sehr gesprächig. Da nicht viele Fahrgäste im Zug waren und Ruby allein reiste, schien er das Gefühl zu haben, sich ein wenig um sie kümmern zu müssen. Als er wieder einmal in ihr Abteil schaute, um mit ihr zu plaudern, erzählte sie ihm den Grund für ihre Reise nach Broken Hill und fragte, ob es eine Busverbindung nach Silverton gebe.
»Eine Busverbindung? Nein, wo denken Sie hin! Früher, als die Stadt noch an die dreitausend Einwohner hatte, da fuhr sogar noch der Zug durch – aber heute?« Er schüttelte den Kopf.
»Warum sind die Leute denn fortgezogen?«
»Als die Erzvorräte in den Silberminen zu Ende gingen und dann noch in der Gegend von Broken Hill ein viel größerer Fund entdeckt wurde, wurden die Bergwerke stillgelegt. Die meisten Einwohner Silvertons zogen nach Broken Hill, viele von ihnen nahmen sogar ihre Häuser mit. Die Holzhäuser wurden als Ganzes auf Waggons gehievt, die von Kamelen gezogen wurden. Die Backsteinhäuser wurden abgebaut, Stein für Stein, und genauso transportiert. Dann baute man sie am neuen Platz wieder auf. Deshalb ist nicht viel von Silverton übrig geblieben. Heute leben höchstens noch fünfzig Leute dort.«
»Was?« Ruby glaubte sich verhört zu haben.
Der Schaffner nickte. »Ja, deshalb wird der Ort ja auch nicht mehr von der Bahn angefahren. Die Strecke ist zu unrentabel. Ich fürchte, Sie werden jemanden bitten müssen, Sie mitzunehmen.«
»Gibt’s denn keine Taxis in Broken Hill?«
»Doch, schon, aber die fahren nicht bis nach Silverton, soviel ich weiß.« Außerdem, aber das sagte Mr. Finke nicht laut, würden die beiden Fahrer viel zu betrunken sein, bis der Zug eintraf. Trinken konnten die Männer in Broken Hill am besten. Es gab dort nicht viele Möglichkeiten, sich zu zerstreuen.
»Na, egal. Ich werde schon einen Weg finden«, erwiderte Ruby.
Ihr Plan, anderntags mit dem nächsten Zug nach Sydney
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