Im Hauch des Abendwindes
seinem Pferd geerbt, hat er einfach aufgelegt. Das ist doch die Höhe!«
Sie schäumte, gern hätte sie ein paar deftigere Ausdrücke gebraucht, um ihrem Zorn Luft zu machen. Ruby rannte zurück ans Telefon und wählte die Nummer noch einmal. Es klingelte eine ganze Weile, bevor endlich jemand abnahm.
»Silverton Hotel«, sagte eine männliche Stimme. Sie klang viel jünger und freundlicher.
»Ach, guten Tag, könnten Sie mir bitte sagen, wo Silverton liegt?«, fragte Ruby zuckersüß.
»Klar doch, vierundzwanzig Kilometer westlich von Broken Hill. Warum fragen Sie?«
»Nur so«, antwortete Ruby. »Ich hab gehört, es soll ganz entzückend dort sein.« Sie verdrehte die Augen und hoffte, der Typ am anderen Ende der Leitung war leichtgläubig genug, ihr das abzunehmen.
Der Mann lachte gutmütig. »Da hat Sie wohl jemand auf den Arm genommen, Lady.«
»Mit wem redest du denn da, Jacko?«, dröhnte mit einem Mal eine Stimme im Hintergrund.
»Keine Ahnung. ’ne Frau, die wissen will, wo Silverton liegt.«
»Leg sofort auf, du dämlicher Dussel! Ich wette, das ist diese neugierige Person, die vorhin schon mal angerufen und sich nach Jed erkundigt hat.«
»Mist«, brummte der Mann am Telefon. Es klickte, dann war die Leitung tot.
Wieder guckte Ruby fassungslos den Hörer an. Aber immerhin war sie jetzt ein kleines Stück weitergekommen. »Ich geh mal schnell rüber zu Beryl und Tom, ich will was auf der Landkarte nachsehen«, rief sie ihrer Mutter zu und schlüpfte zur Tür hinaus.
Silverton war auf der Landkarte ihrer Nachbarn nicht einmal verzeichnet, aber Broken Hill hatte Ruby schnell gefunden: Es lag in der westlichen Ecke von New South Wales, nicht allzu weit von der Grenze zu South Australia entfernt.
Am anderen Morgen rief sie bei der Zugauskunft an und erkundigte sich nach einer Verbindung. Sie fand heraus, dass der so genannte Outback Explorer jeden Montag nach Broken Hill fuhr und anderntags wieder zurück. Er fuhr um sechs Uhr zwanzig in Sydney ab und kam um neunzehn Uhr zehn in Broken Hill an. Ob er einen Ort namens Silverton kenne, wollte sie wissen, und zu ihrer Erleichterung bejahte der Bahnangestellte. Sie bedankte sich und legte auf. Aber selbst wenn sie sich entschlösse, nach Silverton zu fahren, woher sollte sie das Geld für die Reise nehmen?
Doch dann hatte Emily eine Idee. Sie wolle zur Post, sie sei gleich wieder da, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Ich habe mir das Geld von meiner Lebensversicherung ausbezahlen lassen«, verkündete sie, als sie eine Stunde später zurückkam. »Das reicht, damit du dir eine Fahrkarte nach Broken Hill kaufen kannst und ich mit all unseren Sachen nach Fern Bay komme.«
»O Mom«, sagte Ruby gerührt. »Du wirst sehen, ich kann Jed Monroe bestimmt überreden, mir meinen Anteil an diesem Pferd abzukaufen, und dann nehme ich den nächsten Zug zurück.« Sie war fest entschlossen, sich nicht so einfach abspeisen zu lassen.
Emily und Ruby verbrachten den ganzen Sonntag damit, ihre Sachen zusammenzusuchen. Da sie die Wohnung möbliert gemietet hatten, brauchten sie nur ihre persönlichen Habseligkeiten zu verpacken. Am Montagmorgen würden die Kartons abgeholt werden. Ruby wollte früh am Morgen den Zug nach Broken Hill nehmen, Emily den Mittagsbus nach Fern Bay. Voller Erwartung auf das Neue, das da kommen würde, verabschiedeten sie sich von ihrem alten Leben.
6
Es war noch dunkel, als Ruby am Montag in aller Frühe in die Stadt fuhr und im Hauptbahnhof in den Zug stieg, der sie in die kleine Bergwerksstadt bringen sollte. Pünktlich um zwanzig nach sechs, die Sonne ging gerade auf, ertönte der Pfiff des Schaffners, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Knapp zwei Stunden später schlängelte sich die Bahnlinie durch die atemberaubend schönen Blue Mountains. Ruby bewunderte die spektakuläre Bergkette, die Teil der Great Dividing Range, auch Eastern Highlands genannt, war. Sie wusste noch aus der Schule, dass dieser Gebirgszug sich von Dauan Island vor der Nordostspitze von Queensland bis zu den Grampian Mountains im Westen von Victoria erstreckte und mit einer Gesamtlänge von über dreitausendfünfhundert Kilometern das viertlängste Gebirge der Welt war.
Ruby schob das Fenster herunter und sog die würzige Bergluft, die sich wunderbar kühl auf ihrem Gesicht anfühlte, tief in die Lungen. Dichtes Buschland reichte bis an die Bahnlinie heran. Während eines kurzen Aufenthalts an einer kleinen Bahnstation hatte sie den zauberhaften Gesang
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