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Im Hauch des Abendwindes

Im Hauch des Abendwindes

Titel: Im Hauch des Abendwindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran
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sechzehn sein konnte, am Arm und versuchte, sie mit sich zu zerren. Der Mann war ein nicht mehr allzu junger Weißer und hatte eine drahtige Figur. Das Mädchen wehrte sich verzweifelt und stemmte sich gegen ihn, aber sie war zu klein und schmächtig, als dass sie sich hätte losreißen können. Wieder begann sie lauthals zu kreischen.
    »Lassen Sie sie in Ruhe!« Ruby machte ein paar Schritte auf ihn zu. Sie war jetzt nahe genug, dass sie seinen nach Alkohol und Zigarettenqualm stinkenden Atem riechen konnte.
    »Verschwinde«, knurrte der Mann, ohne sie anzusehen. »Kümmere dich um deinen eigenen Dreck! Und du, stell dich nicht so an!«, schnauzte er dann das Mädchen an und stieß Drohungen aus, die für Ruby keinen Sinn ergaben, das Mädchen jedoch zu ängstigen schienen.
    Und dann holte er aus, um sie zu schlagen. Ruby hatte genug. Sie riss ihren Koffer hoch und stieß ihn dem Mann mit voller Wucht an den Hinterkopf. Er sackte in sich zusammen und blieb liegen. Dann hob er die Hand, fasste sich benommen an den Kopf und starrte Ruby völlig verdutzt an.
    »Machen Sie, dass Sie wegkommen, sonst kriegen Sie noch eins über den Schädel!«, drohte sie ihm und hob zum Beweis dafür, dass es ihr ernst war, ihren Koffer erneut.
    Der Mann rappelte sich mühsam auf. Er fiel zweimal wieder auf die Knie, bevor es ihm endlich gelang, sich ganz aufzurichten. Er starrte Ruby böse an, dan veränderte sich sein Blick – er schien durch sie hindurchzusehen.
    Jetzt, da sie nicht mehr allein war, wurde das Mädchen mutiger. Sie bückte sich nach einem großen Stein und holte aus, als wolle sie ihn nach dem Mann schleudern.
    Dieser wich langsam zurück. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, knurrte ärgerlich: »Fahrt doch zur Hölle!«, und taumelte davon.
    Als er in der Dunkelheit verschwunden war, wandte sich Ruby dem Mädchen zu. Der Stein glitt ihr aus der Hand, ihre Anspannung löste sich, sie zitterte am ganzen Körper und fing zu weinen an.
    »Nicht weinen, alles wird gut; jetzt kann dir nichts mehr passieren«, tröstete Ruby sie und legte ihr den Arm um die Schultern.
    Das Mädchen nickte. Sie wischte sich die Tränen ab und rief etwas in ihrer Sprache. Zwei Kinder, ein etwa vierjähriger Junge und ein fünf- oder sechsjähriges Mädchen, kamen aus der Dunkelheit auf sie zugelaufen und klammerten sich an sie. Das junge Mädchen legte schützend die Arme um die beiden sichtlich verängstigten Kinder, die Ruby misstrauisch beäugten.
    »Danke für Ihre Hilfe, Missus.«
    »Du kannst Ruby zu mir sagen. Und wie heißt du?«
    »Girra.«
    »Sag mal, Girra, was wollte dieser Kerl denn von dir?«
    Das Mädchen blickte verlegen drein. »Dass ich mit ihm nach Hause gehe«, antwortete sie leise. »Aber ich kann doch meine Geschwister nicht allein lassen.«
    »Was sollst du denn bei ihm zu Hause?« Ruby schaute sich um. Sie fragte sich, wo die Eltern der Kinder waren.
    Girra senkte den Blick und antwortete nicht. Nach einer Weile dämmerte es Ruby. Sie war entsetzt, als ihr die schreckliche Wahrheit bewusst wurde.
    »Wo sind deine Eltern, Girra?«
    »Mein Vater ist bei einem corroboree auf der Mundi-Mundi-Ebene, und meine Mutter ist mit den anderen lubras unseres Clans unterwegs auf Nahrungssuche. Die Frauen werden in ein paar Tagen zurück sein.«
    »Dann kümmerst du dich ganz allein um deine Geschwister?«
    Das Mädchen nickte. »Ja.«
    »Diesem Mann muss doch klar sein, dass du ihnen gegenüber eine große Verantwortung hast.« Und warum schien er nicht zu befürchten, für seine Tat zur Rechenschaft gezogen zu werden?
    »Das ist ihm egal«, erwiderte Girra. Dann sah sie auf und fragte: »Woher kommst du, Ruby? Hab dich hier noch nie gesehen.«
    »Aus Broken Hill.« In diesem Moment wurde ihr wieder bewusst, dass ihre Füße höllisch schmerzten. Sie setzte sich neben dem Lagerfeuer in den Sand und sah, dass sie an Zehen und Fersen mehrere aufgeplatzte Blasen hatte.
    »Das ist aber ein weiter Weg zu Fuß«, bemerkte Girra.
    »Oh, ich bin nicht den ganzen Weg von Broken Hill hierher gelaufen. Ein Kamelfarmer hat mich in seinem Truck mitgenommen.«
    »Bernie Lewis, der Kamelmann«, sagte Girra.
    »Genau der.«
    »Und was machst du jetzt hier? Hat sein Truck eine Panne gehabt?«
    »Nein, er hat ihn ein paar hundert Meter von hier stehen lassen und ist mit seinem Kamel zu Fuß weitergegangen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als auch zu Fuß zu gehen.«
    Girra machte ein verwirrtes Gesicht.
    »Das ist eine lange Geschichte«,

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