Im Hauch des Abendwindes
ihnen bis hierher kein einziges Fahrzeug begegnet war, war es höchst unwahrscheinlich, dass in nächster Zeit eines vorbeikäme, das sie mitnehmen könnte. Und sie ekelte sich davor, in dem völlig verdreckten Truck zu schlafen. Seufzend schnappte sie ihren kleinen Koffer und sah in die Richtung, in der Bernie und das Kamel verschwunden waren. Blitze zuckten am schwarzen Himmel.
So wie ich mein Glück kenne, dachte Ruby niedergeschmettert, wird es gleich wie aus Kübeln gießen. Und dann lief sie los.
7
Ruby kam mit ihren hohen Absätzen auf dem holprigen Boden nur mühsam voran. Und als sie dann auch noch in ein Loch tappte und sich den Fuß vertrat, konnte sie sich nur noch humpelnd fortbewegen.
Kein Laut war zu hören, außer den Geräuschen, die sie selbst machte: ihre Schritte, ihre flachen, abgehackten Atemzüge. Da sie in der Stadt aufgewachsen war und nie woanders gelebt hatte, war ihr diese vollkommene Stille fremd. Noch unheimlicher aber war die gespenstische Finsternis. Plötzlich blieb Ruby wie versteinert stehen. Sie vernahm einen dumpfen Laut, dann ein Rascheln.
»Wer ist da?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme, vor Angst wie gelähmt. »S-s-sind Sie das, Bernie?« Aber niemand antwortete.
Da sprang etwas Großes, Dunkles nur wenige Zentimeter an ihr vorbei. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, taumelte zurück und wäre fast gestürzt. Ein Känguru? Es konnte nur ein Känguru gewesen sein.
»O Gott!«, stöhnte sie, eine Hand auf ihr heftig klopfendes Herz gepresst. Sie atmete ein paarmal tief durch, bis sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Ob das Tier sie hatte angreifen wollen? »Ach was, red keinen Unsinn!«, schalt sie sich selbst, um sich die Angst zu nehmen. Aber so ganz geheuer war ihr nicht.
Ruby humpelte vorsichtig weiter. Noch immer konnte sie keine Lichter sehen, die auf eine Stadt hingedeutet hätten. War sie am Ende an Silverton vorbeigegangen, weil der Ort abseits der unbefestigten Straße lag? Daran wollte sie lieber nicht denken. Das Gehen schmerzte immer mehr. Vielleicht war die Reise nach Silverton doch keine so gute Idee gewesen. Daran war nur dieser Jed Monroe schuld! Hätten sie sich am Telefon wie zwei zivilisierte Menschen unterhalten können, würde sie jetzt nicht mutterseelenallein mitten in der Wildnis im Finstern herumtappen.
Aber dann sah Ruby in der Ferne einen hellen Schein wie von einem Feuer. Sie schöpfte neue Hoffnung. Den Blick fest auf das schwache Leuchten geheftet, ging sie weiter. Als die Straße einen Knick machte, verlor sie den Lichtpunkt für eine Weile aus den Augen. Doch hinter der Biegung führte der Weg leicht bergab, und jetzt konnte sie erkennen, dass der Lichtschein von einem Lagerfeuer in einem ausgetrockneten Flussbett stammte. Das war zwar nicht unbedingt das, was sie sich erhofft hatte, aber immerhin deutete das Feuer auf die Nähe von Menschen hin. Sie könnten ihr sicher den Weg nach Silverton beschreiben.
Ruby verließ die Schotterpiste und ging im sandigen Flussbett weiter auf das Feuer zu. Kleine Steinchen in ihren Schuhen hatten die Haut aufgescheuert. Kurz entschlossen zog sie ihre unbequemen Sandaletten aus. Sie seufzte behaglich, so wunderbar fühlte es sich an, barfuß durch den weichen Sand zu laufen.
Mit einem Mal zerrissen laute Rufe, gefolgt von einem gellenden Schrei, die Stille der Nacht. Ruby erstarrte. Wieder begann ihr Herz zu rasen. Sie lauschte angestrengt, während sie mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen versuchte. Und dann sah sie ein junges Mädchen keuchend am Feuer stehen. Ein Mann schrie sie wütend an und versuchte sie zu packen. Sie lief um das Feuer herum und kreischte, sie werde auf keinen Fall mit ihm gehen.
Ruby beobachtete die Szene erschrocken. Was sollte sie tun? Da bekam der Mann die langen Haare des Mädchens zu fassen, das vor Entsetzen und Schmerz aufheulte. Ruby hatte zwar keine Ahnung, worum es ging, aber sie konnte nicht einfach tatenlos zusehen, wie das Mädchen misshandelt wurde. Ohne weiter nachzudenken, rannte sie los.
»Hey, Sie! Hören Sie auf! Lassen Sie das Mädchen in Ruhe!«, schrie sie.
Der Mann und das Mädchen verharrten regungslos. Verblüfft starrten sie Ruby an.
»Haben Sie nicht gehört?« Ruby funkelte den Mann wütend an. »Sie sollen sie loslassen! Auf der Stelle!«
Doch der Mann hatte sich schon wieder von seiner Überraschung erholt. Ohne weiter auf Ruby zu achten, packte er das Mädchen, eine Aborigine, die nicht älter als
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