Im Hauch des Abendwindes
diese wunderschöne Abendstimmung noch nie aufgefallen? Vom Balkon ihrer Wohnung in Sydney hatte sie zwischen den Hochhäusern hindurch immer nur ein Stück vom Himmel sehen können. Dazu kam der Dunst der Autoabgase und Fabrikschornsteine, der immer über der Stadt hing. Sie hatte jedenfalls nie zuvor einen so prachtvollen Sonnenuntergang gesehen wie hier im Outback.
Irgendwie müssen die Leute hier ja für ihr karges Leben entschädigt werden, dachte sie sarkastisch. Die Stille machte sie fast wahnsinnig. Sie vermisste das pulsierende Leben der Großstadt, vor allem aber die Musik. Myra besaß zwar ein Transistorradio, aber das war schon uralt, und man konnte nur einen einzigen Klassiksender in Broken Hill damit empfangen.
Allmählich wurde es kühler, und Ruby genoss die Bewegung an der frischen Luft. Abends war es im Haus kaum auszuhalten, weil sich die Hitze des Tages angestaut hatte. Außerdem ging Myra früh zu Bett, weil sie bereits mit den Hühnern aufstand. Sie solle ja vorsichtig sein, falls diese Camilleri-Brüder noch in der Nähe seien, hatte sie Ruby gewarnt, doch die war sich ziemlich sicher, dass die beiden Männer nicht mehr in der Gegend waren. Dennoch ging ihr die Begegnung nicht mehr aus dem Kopf – vor allem die Art, wie sie sie angesehen hatten. Es überlief sie kalt, wenn sie daran dachte.
Ruby schlenderte durch die Abbott Street auf die Loftus Street zu, wo sich die Schule und die Kirche befanden, und summte einen ihrer Lieblingsschlager, You can’t hurry love von den Supremes.
»Wo gehst du denn hin, Ruby?«, rief plötzlich jemand hinter ihr.
Zu Tode erschrocken wirbelte Ruby herum. Ihr Herz klopfte so heftig, dass ihr regelrecht schwindlig war. »Girra!«, stieß sie atemlos hervor, eine Hand an ihren Hals gepresst. »Meine Güte, hast du mich erschreckt!«
»Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich dachte, du hättest mich gehört.«
»Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders, weißt du.« Da sie barfuß ging, konnte Girra sich lautlos bewegen, was beim Heranpirschen an Beute auf der Jagd sehr hilfreich war. Das Mädchen war allein. Ruby nahm an, dass ihre Eltern zurückgekehrt waren und die jüngeren Geschwister sich wieder in ihrer Obhut befanden. »Aber es ist gut, dass ich dich treffe«, fuhr Ruby fort. »Ich weiß, ich habe dich verärgert, das wollte ich nicht. Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte Charlie in Schutz genommen.«
Girra blickte zu Boden und schwieg.
»Ich mache mir Sorgen wegen deiner Geschwister. Man kann nicht wissen, auf was für Ideen Charlie kommt. Vielleicht solltet ihr euch von der Stadt fernhalten.«
»Wir sind nie lange an einem Ort.« Ihr Vater und einige andere Männer ihres Clans hielten stets einen Speer bereit für jeden, der versuchen sollte, die Kinder wegzunehmen. Doch das sagte sie Ruby nicht. »Ich bin gekommen, weil ich dir sagen wollte, dass Jed Monroe mit seinem Pferd auf der Mundi-Mundi-Ebene campiert. Suchst du immer noch nach ihm?«
»Ja.« Ruby nickte aufgeregt. »Wo ist die Mundi-Mundi-Ebene denn?«
»Richtung Umberumberka.«
»Und woher weißt du, dass er dort ist?«
»Meine Leute haben ihn gesehen. Er trainiert sein Pferd dort draußen.«
»Hm. Wie weit ist es denn bis dorthin?«
»Zu Fuß ungefähr eine Stunde, wenn du querfeldein gehst.« Girra zeigte mit dem Finger in die Richtung, in der Myras Haus lag. »Ein bisschen länger, wenn du auf der Straße bleibst.«
Ruby nagte an ihrer Unterlippe. »Da sind zwei zwielichtige Typen, die Jed suchen, die Leute hier wollen verhindern, dass sie ihn finden. Die Straße kann ich nicht nehmen; es könnte ja sein, diese Männer sehen mich und folgen mir. Mit denen ist nicht zu spaßen, und sie haben mich schon zwei Mal nach Jed gefragt.«
»Dann warte, bis er wieder in die Stadt kommt«, schlug Girra vor.
»Das kann dauern. Ich will keine Minute länger als unbedingt nötig in diesem Nest festsitzen. Nein, ich werde heute noch zu ihm gehen und mit ihm reden. So eine Chance bietet sich vielleicht nie wieder.«
Girra hielt das nicht unbedingt für klug, aber Ruby schien fest entschlossen. »Ich werde dir den Weg zeigen.«
Ruby nickte. In gut einer Stunde würde es dunkel werden, aber sie durfte sich diese Gelegenheit, mit Jed Monroe zu reden, nicht entgehen lassen, wenn sie, was ihr größter Wunsch war, endlich wieder in ihr altes Leben zurückkehren wollte. »Kannst du nicht mit mir kommen?«
Girra schüttelte den Kopf. »Ich habe etwas zu essen für meine Familie
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