Im Hauch des Abendwindes
gewarnt.
Plötzlich vernahm sie ein seltsames Geräusch. Es hörte sich wie Hufgetrappel an, und es kam rasch näher. Ruby schaute auf. Ein großer Schatten raste genau auf sie zu. Sie schrie auf, kniff die Augen zusammen und machte sich auf den Zusammenprall gefasst. Ein Schnauben und Prusten war zu hören, dann schlug ihr etwas ins Gesicht. Ruby verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Der Aufprall war hart und schmerzhaft. Die eine Hälfte ihres Gesichts brannte, in ihrem Handgelenk pochte es, weil sie auf einem scharfkantigen Stein aufgeschlagen war. Plötzlich war es ganz still geworden. Ruby rappelte sich langsam wieder hoch. Nur ein paar Schritte entfernt konnte sie die Umrisse eines Pferdes erkennen. Ein Strick hing von seinem Halfter herunter. Es musste dieses Seil gewesen sein, das sie im Gesicht getroffen hatte, als das Tier versucht hatte, ihr auszuweichen.
Ruby blickte sich um und lauschte, während das Pferd nervös mit den Hufen scharrte. Irgendetwas – oder irgendjemand – musste es erschreckt haben. Sie betrachtete das Tier. Es war von heller Farbe, möglicherweise grau, mit einem dunklen Kopf. Obwohl sie kaum Ahnung von Pferden hatte, ahnte sie, dass dieses majestätische Tier wunderschön war. Es tänzelte hin und her und schlug mit dem Schweif. Was konnte ihm solche Angst eingejagt haben?
»Wo kommst du denn her?«, fragte sie sanft. Das alles gefiel ihr gar nicht. Ruby wusste instinktiv, dass das Pferd Silver Flake war. Wo also war Jed Monroe und warum lief das Tier reiterlos durch die Nacht? Sie musste an das Auto denken, dessen Scheinwerfer sie gesehen hatte, und eine böse Vorahnung überkam sie. Ganz langsam ging Ruby auf das Pferd zu, wobei sie beruhigend auf es einredete.
»Na komm schon, mein Junge.« Es hätte natürlich auch eine Stute sein können, aber das spielte in diesem Augenblick wohl keine Rolle. »Was machst du denn ganz allein hier draußen?«
Das Pferd stampfte aufgeregt mit den Hufen und warf wiehernd den Kopf zurück.
»Ich tu dir nichts, ich will dir doch nur helfen. Du kennst mich nicht, aber du gehörst zur Hälfte mir, deshalb ist es in meinem eigenen Interesse, dafür zu sorgen, dass dir nichts geschieht.«
Ruby war nur noch zwei, drei Schritte von dem Tier entfernt, das weniger Angst vor ihr hatte als sie vor ihm. Einige Sekunden verstrichen, dann streckte es zögernd den Kopf vor. Ruby konnte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und ihrer Schulter spüren. Obwohl sie Angst davor hatte, wieder gezwickt zu werden, hielt sie ihm ihre Hand zum Beschnuppern hin. Dann griff sie vorsichtig nach dem Strick. Fast im selben Augenblick fiel ihr etwas Dunkles im unteren Bereich des Schulterblatts auf, das feucht schimmerte. Als sie dorthin fasste, zuckte das Pferd zusammen. Ruby rieb ihre klebrigen Finger aneinander.
»Du blutest ja«, sagte sie erschrocken.
Das Pferd stampfte abermals mit den Hufen und wieherte. Plötzlich setzte es sich in Bewegung. Es trabte los, und Ruby rannte hinterher. Sie wollte nicht, dass es wieder allein durch die Nacht irrte, zumal es verletzt war.
»Brrr!«, rief sie, weil sie kaum mit ihm Schritt halten konnte. »Brrr!« Das sagten die Leute im Film immer. Und es funktionierte tatsächlich. Das Pferd blieb stehen. »Komm, wir gehen da lang«, sagte Ruby angespannt.
Sie führte das Tier in die Richtung, aus der das Auto gekommen war. Schon nach kurzer Zeit erreichten sie die Straße. Als sie sie überquert hatten, wurde das Pferd wieder nervös.
»Na komm, mein Guter«, redete Ruby beschwichtigend auf das Tier ein. »Du bist ein Prachtbursche, weißt du das? Wo ist Jed, hm? Geht es ihm gut?«
Die Unruhe des Pferdes übertrug sich auf Ruby. Wieder beschlich sie ein beklemmendes Vorgefühl. Sie verlangsamte ihren Schritt und lauschte angestrengt. Es war inzwischen richtig dunkel geworden, doch nach einer Weile konnte sie die Umrisse eines Wohnmobils und eines weiteren Fahrzeugs, vermutlich eines Pferdehängers, erkennen. Kein Lagerfeuer brannte. Vielleicht versperrten die Fahrzeuge ihr auch den Blick darauf.
Statt zwischen den Fahrzeugen hindurchzugehen, machte Ruby einen Bogen um sie herum. Das Pferd prustete.
»Flake?«, rief eine schwache Männerstimme. »Komm her zu mir, mein Mädchen.« Ein Ächzen und Stöhnen folgte.
»Mr. Monroe?«, rief Ruby. »Sind Sie das? Alles in Ordnung?«
»Wer ist da?« Anspannung und Schmerz verzerrten Jeds Stimme.
Ruby hörte es rascheln und schlurfen und fragte sich, ob er nach einer Waffe
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